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Milchpreis — oder Leben?

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Landwirtschaftsminister Hartmann, international anerkannter Verfechter des — bäuerlichen — Familienbetriebes, hat einmal gesagt: Wo immer sich in nichtlandwirtschaftlichen Kreisen die Landwirtschaft zu Worte meldet, hat sie es schwer, sich verständlich zu machen: sie spricht eine den anderen fremde Sprache.

Welcher Landwirt kennte das nicht? Er nimmt es hin als zu seinem Berufsstand gehörig, der Meinung, daß ja auch der Arbeiter im Kreise der Kaufleute oder diese unter Arbeitern sich nur schwer verständlich machen. Nicht ganz freilich: denn die Arbeiterschaft sorgte in jahrzehntelangen Kämpfen sehr energisch dafür, daß ihre Ansichten gehört, daß ihre Sprache verstanden werde. Und die Kaufleute hatten es seit Jahrhunderten in die Hand genommen, ihrem Berufsstand allgemeine Anerkennung zu verschaffen. Ist beiderseits das Verständnis nicht groß und die Sprache keine gemeinsame, so ist man doch bereit, zu „übersetzen".

Nicht so bei der Landwirtschaft. Aber — und das ist das neue — vielleicht darf man sagen, daß angesichts der explosiven Ballung großstädtischer Zentren, angesichts der Raumnot, Vermassung, in einer nur mehr gemachten, „manipulierten“ Welt, der Slogan Landflucht auf einen anderen trifft, den Slogan Stadtluft, und daraus eine Verständnisbereitschaft sich ergibt, die eine einmalige Chance zur Lösung der "-’Polarität-Stadt und1 Larrd ‘bietetr., v -059 aiU mr 1 nuirai jarl ezeib

Die große Aufgabe

Sieh einmal an: eine neue Denkart, wenn man nicht von Milchpreis und Flucht aus der Landarbeit, von Tradition, Blutsquell und Nährstand spricht, sondern davon, welche große Aufgabe das Landvolk damit erfüllt, daß es Raum gestaltet und gestaltet erhält, daß es nicht nur Nahrung schlechtweg, sondern gesunde Nahrung und für jederzeit Nahrung schafft, und mit einem Male ist eine Sprache, da, die alle angeht und die alle zu verstehen sich bemühen ...

Hat nicht so mancher Asphaltbürger, gewohnt, daß ihm Haus und Gasse, Verkehrsmittel, Wasser, elektrischer Strom, Fernsprecher usw. nicht nur perfekt geboten, sondern auch erhalten werden, erlebt, daß das Ziel seiner unbeschwerten Urlaubstage, als er es nach Jahresfrist wieder sah, entstellt, von Naturmächten verwüstet, und sei es auch nur von einem harten Winter angefressen, wieder vors Auge trat? Dann gab es keine Stadtverwaltung, die für Instandsetzung zu sorgen hatte, kein Dienstleistungsgewerbe, das für wieder klaglosen Ablauf zuständig gewesen wäre: da war es nur das Landvolk, die aus patriarchalischen Zeiten übernommenen „Bauern“, die, was verwittert, verfallen, verwüstet, zerstört worden war, im wahrsten Sinne des Wortes wieder „aufbauten“. Bis hoch hinauf fahren die chromglitzernden Pkws ihre nach Luft, Land und Einschicht Hungrigen auf jenen Güterwegen, die von den „Fraktionen“, den Güterweggenossenschaften gebaut und erhalten werden: sie nutzen Straßen und Brücken und setzen voraus, daß, wenn sie kommen, alles fahrbereit ist, und fragen nie im Leben, wer für die Fahrbereitschaft einstand, und meinen, ein Amt, ein Dienstleistungsgewerbe, der Staat habe es getan.

Wer von den aus der Stadt Flüchtigen starrte nicht gebannt auf den Schrecken der Massenerholungszentren? Größer und größer die Zahl jener, auch Junger, die von Masse, Getöse und Betrieb verschont gebliebene Sommerheimaten suchen, jene kleinen Weiler, wo das Familiäre, die menschliche Dorfverbundenheit ihnen Ruhe und Geborgenheit geben, nach der sie dringend verlangen. Sie steigen ab in jenen Höfen, die so richtig in der Landwirtschaft gebettet, „am Herzen der Natur“ ihnen wiedergeben, auch dem Herzen der Natur nahe, wenige Wochen ihres gejagten Großstadtlebens nur Mensch zu sein.

Die Leistung

Wer setzte sich nicht gern an den mit Bauernspeck und Roggenbrot gedeckten Tisch? Wer aber dächte daran, daß Roggenbauen in der Landwirtschaft unmodern werden mußte. Heute scheint sich auch für uns das Wort des Franzosenkönigs zu verwirklichen, daß jedem sein Huhn im Topf bereit sein soll; aber die Masthühner von der Stange erfreuen sich schon lange nicht mehr der Beliebtheit der Feinschmecker; 1000 dz/ha gemästetes Kraut sind eine schöne Sache, aber weniger und dafür kerniges Kraut sind auf dem Tisch schmackhafter und im Krautfaß haltbarer. Nur Getreide bauen, Stroh verbrennen und die Erträge mit Mineraldünger treiben, ermöglicht auch für die Landwirtschaft Fließbandarbeit. Aber schon manches derartige Fließband ist ins Stocken gekommen, und die alte Weisheit der Fruchtwechselwirtschaft ist noch immer nicht überholt. Die USA mit geringen Hektarerträgen auf großen Flächen bei dünner Besiedlung können exportieren und müssen Weizen und Milch sogar horten. Auf verhältnismäßig kleinen Flächen aber arbeiten Landwirt und Bauer bei uns, um des von Jahr zu Jahr unerläßlicher werdenden Kleingeldes willen muß und angesichts sehr hohre Erträge kann exportiert werden; dabei aber würde nur eine Woche Ausfall der bei „weitgehend“ erreichter Selbstversorgung doch nötigen Einfuhr insbesondere von Futtermitteln und Brotgetreide auch den letzten Verächter heimischer

Landwirtschaft erkennen lassen, daß das Brot auf dem Acker vor der Stadt wächst und die Milch nicht in der Molkerei erzeugt wird.

Das also ist die Leistung der Landwirtschaft: daß das Land Erholungsland bleibt, besiedelt, gepflegt; daß es Oase des zu sich Findens sein kann; daß es gesunde, unentstellte, richtig gewachsene Nahrung schafft und sich bereit hält, auch in Krisenzeiten Nahrung zur Verfügung zu stellen.

Kein einsichtiger Freund der Landwirtschaft redet angesichts der Kolchose des Ostens und der daher nur zu sehr gerechtfertigten Bestrebungen der EWG um den familiengerechten Hof davon, daß grundsätzlich jeder Hof erhalten bleiben muß. Wie aber die Arbeitsbeschaffung, das Recht auf Arbeit, über den davon vor allem betroffenen Arbeiter hinaus ein Anliegen aller geworden ist, so interessiert, daß es bäuerliche Landwirte gibt, nicht nur diese selbst, sondern ebenfalls alle.

Einst sah man im Bauern den Ernährer des Volkes (Weizen gibt es in den USA mehr, als sie brauchen können); man sah in ihm dien Blutsquell (die Stadt hat das Kind wieder entdeckt, wie das Land die Zweikinderehe, und die Gesundheit ist heute in der Stadt mehr zu Hause und entschwindet dem Landvolk); man sah im Bauern den Wahrer der Tradition (städtische Kreise aber sind es heute, die den Wert der Verbundenheit mit Umwelt und Geschichte nicht nur erkennen, sondern leben im Wandern, Singen, Tanzen, Tagen, Siedeln); man meint nun —, als das A und O der Agrarpolitik — dem Bauern und Landwirt durch Rationalisierung, Technisierung, Ökonomisierung Anschluß an den Gott der Zeit, den Götzen Lebens- tandard, verschaffen zu müssen.

Das alles gewiß: der Bauer soll gesunde Nahrung erzeugen, sein Haus, und Hof sollen Hort einer gesunden Familie sein, einer dörflichen Verbundenheit; seine Erzeugung soll rationell die Möglichkeiten der Technik nutzen und ökonomisch Erfolg haben.

Arbeiter und Bauer

Wie uns aber der Arbeiter, er, der Nieten hämmert, die Asphaltdecke gießt, den Ziegel setzt oder nur Handreichungen dazu tut, nötig ist, und wie seine Arbeit nicht nur Werte schafft, sondern Werterzeugung auch wieder nötig macht, damit das ganze Getriebe erhalten bleiben kann, weil Arbeitslosigkeit der Anfang des Endes äst, so brauchen wir alle den bäuerlichen Landwirt nicht nur, weil er Brot und Milch erzeugt, sondern weil er die Welt, in der wir leben, in Gang hält.

Arbeit für den Arbeiter, Wohnungen, Wasser, Strom, Straßen, Eisenbahnen, Schulen, Lehrer, Kinos, Theater, Sportplätze, Reisen; aber auch Exportprämien für im Inland weniger gefragte Produkte, Subventionen an Einrichtungen, die der Allgemeinheit dienen, wie Elektrifizierung, Verkehrsmittel, Eisenbahnen; kein Mensch, dem das Gefüge der modernen Zeit vertraut ist, findet letztens ein Arges darin.

Ein Arges darf er aber auch nicht mehr darin finden, wenn auch dem bäuerlichen Landwirt Riecht auf Arbeit zugesichert wird, was mit anderen Worten auch bei ihm heißen darf: Sicherung seiner Erzeugung, kostendeckende Preise, Exportprämien, und auch für ihn heißt: Straßenbau, Wohnbaudarlehen, moderne Schulen, beste Lehrer, kulturelle Einrichtungen, Sportplätze, und statt „hinter den Brettern sein“ ein gleicher Start.

Sieh einmal an: sie sprechen die gleiche Sprache; es erkennt der Bauer, wie sehr wichtig es ist, daß der Arbeiter Arbeit und eine lebenswerte Umwelt habe, und es erkennt der Arbeiter, daß auch dem Bauern ein Recht auf Erzeugung zusteht und auch seine Umwelt dieser unserer Zeit gemäß sein muß.

Geht es beim Arbeiter etwa nur um Lohn und Freizeit? Es geht um unser aller Leben. Geht es beim Bauern um den Milchpreds? Nein, es geht auch hier um nicht weniger als das Leben.

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