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Millionenstadt am Ganges

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' NIEDERDRÜCKEND SCHWER HÄNGT DIE SCHWÜLE TROPENNACHT über.u Kalkutta, der Stadt am Ganges, von der man nicht genau sagen kann, wieviel Einwohner sie zählt. Man spricht von sieben Millionen, tatsächlich dürften es nur vier sein. Noch lastet, es ist vier Uhr morgens, der Dunst wie ein Gespinst über den Dächern und Straßen. Im Zwielicht gleicht die Stadt einem Schlachtfeld. Tausende „Heimloser“ liegen auf Trottoir und Pflaster, im Rinnsal und Straße. Dazwischen die Kühe, die heiligen Tiere. Die Nachtwächter schlafen vor den zu bewachenden Geschäften der Chowringhee, Kalkuttas Picadilly, auf Bastbetten. Wer einbrechen will, wird sie wohl beim Drübersteigen wecken, meinen sie.

Zu so früher Stunde ist es nur im Marktviertel lebendig. Dort wohnen, außerhalb der indischen Gemeinschaft, die Moslems. Sie leben aber auch in Gemeinschaft. In Kalkutta wohnt man nicht allein, man wohnt mit dem „Clan“, das ist im kastenreichen Indien notwendig. Allein verlöre man sich im Wirbel der Großstadt, käme unter in den fluktuierenden Massen. Der Clan ersetzt die öffentliche Fürsorge, ist Schutz und Rückhalt. Im Marktviertel stehen eng aneinandergereiht die Basthütten der Straßenfleischhauer. Wolken von Fliegen summen, sitzen auf dem Fleisch. Man denkt unwillkürlich an die Schicksalshaften Maden im „Panzerkreuzer Potemkin“. Jetzt versteht man manches, wenn man von Epidemien liest. Im Lichte des aufsteigenden Morgens sitzen Gruppen fröstelnder Rikschakulis um die kleinen, ihr Teewasser wärmenden Holzfeuer. Sie sind arm, aber nicht die Aermsten der Armen. Ihr Lohn ist unvergleichlich niedrig, aber sie können der Almosen entbehren und spannen ihre ausgemergelten Körper vor die Rikschas fremder Besitzer. Der Inder ist der typische Leptosome, dicke Gestalten sieht man kaum.

NACH UND NACH ERLÖSCHEN DIE LATERNEN. Ein klangloser Weckruf. Jetzt wird das „Schlachtfeld“ lebendig. Die müden Helden stehen auf, um zu kämpfen und abends hinzufallen. Ein Großteil sind vor allem Flüchtlinge, von denen es vier Millionen in Indien gibt, aber auch Saisonarbeiter, Bauern. Taglöhner, Lastträger. Diejenigen aus Bengalen haben einen Horror vor körperlicher Arbeit, sie nehmen lieber eine elend bezahlte Gelegenheitsarbeit an, ehe sie in einer Fabrik Arbeit suchen. Die aus Pakistan Gehobenen akklimatiturmhohe Kulihandwagen schieben sich dahin. Immer wieder gibt es Stockungen, an denen meist die heiligen Kühe schuld sind. Aber welcher Unterschied zu Europa! Es wird weder gehupt noch getobt. Man wird plötzlich still, asiatisch still und wartet Zwei Minuten, drei, vier — bis die Kühe weitergehen. In der Dha- ramtala Street, einer Hochburg der Händler, spannen die Sockenhändler ihre Stricke. Tausende Socken, sklavenbunt. Köpfe rollen vorbei, Hälse recken sich, dunkle Augen kullern, Hände stöbern, Arme drängeln. Feierlich stehen die Händler, in Wirklichkeit gerissene Burschen, sie drehen den Kunden immer wieder zu „erstklassigen Preisen" Socken zweiter Wahl an, entweder verschiedene Größen oder verschiedene Farben. Der echte indische Kaufmann läuft dem Kunden nicht nach. Stoisch sitzt er in seinem Laden und wartet. Er ist nicht besonders zuvorkommend. Der Kunde hat den Eindruck, als werde er nur gnadenhalber bedient.

Autos aller Jahrgänge, Kutschen aller Arten, Büffel, Fahrräder, Rikschas, Zweistockbusse und sieren sich schneller. Seltsam, wie plötzlich der Strom des Lebens zu pulsieren beginnt, eine Stunde, später herrscht eip unglaubliches Geschiebe, Gedränge, - Kommen und Gehen. Instinktiv sind die unzähligen Büffel gefolgt, die sich mit den anderen Fahrzeugen mischen. Vier- und Zweibeiner wissen, was der Laternenweckruf bedeutet. Denn jetzt rasseln die Sprengwagen durch die Straßen und wecken die letzten Langschläfer mit kalten Wasserstrahlen.

UNTER DER NUN STECHENDEN SONNE haben die Ohrenreiniger ihren Freiluftsalon aufgemacht, auf dem Maidan, einer gartenartigen Anlage im Zentrum. Sie hocken auf Packpapier, stochern dem Patienten, die geschlossenen Auges dasitzen, in den Ohren herum mit Pinzetten und anderen spitzen Instrumenten, die in einem Holzkasten griffbereit liegen. Die Prozedur kostet zwei Annas, etwa 70 Groschen. Auf dem Chowringhee haben die schlafenden Nachtwächter bereits das Feld geräumt, Massen wälzen sich nun an den Auslagen vorbei. Bengalinnen, unendlich zart und schmal, faszinierend schön, in bunte Saris gehüllt, mit langen, öligen Zöpfen, Berufsbettlprinnen mit verkrüppelten Kindern auf dem Rücken, Bäuerinnen aus der Provinz mit schwarzen, traurigen Augen, Sadus mit verfilztem Haar, nackenlang, spärliche Lendenschürzen um den braunen, ausgemergelten Leib. Sie hasten und eilen. Sie kommen gerade von einem Hindubegräbnis, darum sind sie von Kopf bis Fuß mit heiliger Asche bestreut. Ein seltsamer Anblick. Touristen, unvertraut mit religiösen Bräuchen, berichten nach ihrer Rückkehr, sie könnten schwören, es seien afrikanische Buschmänner gewesen. Die Sikhs verbergen ihr langes Haupthaar unter himmelblauen Turbanen und umgeben das üppige Barthaar mit Netzen Bettler singen monoton Klagelieder mit dem Kehrreim: „Sab — Bakschisch! Sab — Bakschisch!“ Dabei swd, dj. Bpttlex nicht ,e,tjv:a, unterwürfig- Sie we.igern sich manchmal . die angebotene Münze anzunehmen, wenn sie meinen, der Spender sei nicht barmherzig. Oft arbeiten sie nicht für sich. Skrupellose Marwarigeschäftsleute lassen sie gegen Quartier und eine Schüssel Reis für sich arbeiten. Abends müssen sie das Erbettelte abliefern. Gutgewachsene junge Bettelmädchen, zweifellos Amateure, wetteifern in Hartnäckigkeit mit den alten Professionalisten. Ueberall lehnen, sitzen, kauern, liegen Krüppel und Verstümmelte und strecken unter Flehen und Wehklagen die Hände aus. Niemand kümmert sich um die wie verlorene Hunde vegetierenden und sterbenden Parias der Millionenstadt.

Auf dem Dalhousie-Square, einer modernen Geschäftsstraße mit eleganten Hotels und luftgekühlten Kinos, sitzen die Schreibkundigen in ihren Trottoirbüros und erledigen die Korrespondenz der Analphabeten. Poröse Regenschirme dienen dem Sonnenschutz; die Schreiber tragen Nickelbrillen wie Gandhi, ganz vorne auf der Nase. Hin und wieder kommt es zu dialektischen Mißverständnissen zwischen Schreiber und Auftraggeber, die dann gestikulierend erledigt werden. Die englischsprechenden Schreiber gehören zur Oberklasse und tippen auf alten Schreibmaschinen aus der Zeit nach dem ersten Krieg. Ihr Büro befindet sich auf den letzten Ziegelstößen der Neubauten. In der Mittagszeit schläfert die Hitze das Leben für kurze Zeit ein. Die engen Gassen sind leer geworden. In solöh täglich wiederkehrenden Intervallen nehmen die „Heimlosen“ Waschungen an den Flydranten vor, Kulis legen sich wieder nieder. Endlose Ströme von Pilgerinnen ziehen hinaus zum Kalitempel. Sie hängen mit Bändern geweihte Steine an die Aeste des Tempelbaumes: Fürbitte um ersehnte Mutterschaft. Das ist ja das Faszinierende an Kalkutta, daß sich trotz des westlichen Einflusses, der sich immer breiter macht, das alte religiöse Leben erhalten hat. So kommt es zu solchen Kontrasten: modernste Fabriken neben uralten Tempeln, die neuesten Straßenkreuzer und die heiligen Kühe.

AM SPÄTEN NACHMITTAG VERSTUMMEN DIE SURRENDEN VENTILATOREN in den Büros und den Kontoren. Noch einmal schlägt der erregte Puls der Gangesstadt. Es wird Feierabend. An den überfüllten Autobussen hängen die Menschen wie Trauben. Diese zweistöckigen Busse sind die letzten Erinnerungen an die einstigen Kolonialherren im Straßenbild. Die Straßenbahnen ähneln denen in Europa, sie sind zum Teil dort gekauft. Auch hier an den Trittbrettern Menschentrauben. Darunter, wie überall, leidenschaftliche Schwarzfahrer. Daneben schwere Limousinen und trabende Kulis vor den Rikschas. In den Passagen und Eingängen der Banken haben die Barbiere von Kalkutta ihre Salons aufgemacht. Ihre Betriebskosten sind nieder. Sie bedienen sich der für die Banken bestimmten Lichtquellen und können solcherart die Preise niedrighalten. Unter freiem Himmel Sil. riiiiwäWigeh'riklüfikubhen dräfigthf1 .Üifeh jetzt die Hungrigen. JPür sie ist wieder ein bengalischer Alltag zu Ende gegangen. Sie warten auf den Schlafruf der Laternen. Während sie sich nun irgendwo in das Rinnsal oder auf den Gehsteig legen, geht überall das Licht an, und um Red Road und Chowringhee, in den Hotels und Nachtlokalen drehen sich die Tanzlustigen zu modernen Rhythmen. Ueber Kalkutta senkt sich die Nacht. ..

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