Schilf - © Foto: iStock / Henk Hulshof

Mit biblischem Sprachton

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Die junge Niederländerin Marieke Lucas Rijneveld legt mit „Was man sät“ ein kraftvolles Debüt vor. ­In bildreicher Sprache erzählt der Roman von Traumata und klaustrophobischen Familienzuständen.

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Die junge Niederländerin Marieke Lucas Rijneveld legt mit „Was man sät“ ein kraftvolles Debüt vor. ­In bildreicher Sprache erzählt der Roman von Traumata und klaustrophobischen Familienzuständen.

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Oft wurde zuletzt die Qualität aktueller deutschsprachiger Debütromane gepriesen, doch wer einen Blick auf den Erstling der 1991 geborenen Niederländerin Marieke Lucas Rijneveld wirft, kommt nicht umhin, diese Lobeshymnen zu relativieren. Denn Rijneveld legt mit „Was man sät“ ein Debüt vor, wie man es nicht alle Tage findet: kraftvoll, ungezügelt, risikofreudig. Nichts in diesem Buch ist erzählökonomisch austariert, nichts von einem gemäßigten Temperament gesteuert. Stattdessen erzählt die Autorin mit aller Wucht von den fatalen Erschütterungen, die eine Bauernfamilie in der niederländischen Provinz ereilt. Vier Geschwister – darunter die anfangs zehn-, später zwölfjährige Erzählerin Jas – leben mit ihren Eltern auf einem Hof, auf dem sich alles um Viehhaltung dreht. Die Kühe haben das Sagen und behalten im Zweifelsfall gegenüber den Kindern die Oberhand.

Das calvinistische, strengen Regeln folgende Hofleben, wo niemand Zeit hat, sich mit sich selbst zu beschäftigen, die Mutter „Rotwerdwörter“ mit Seife auszuwaschen hofft und Körperlichkeit als Tabu erscheint, wird jäh erschüttert, als eines der Kinder, Matthies, beim Schlittschuhlaufen tödlich verunglückt. Fortan ist nichts mehr, wie es war. Die Mutter kapselt sich ab, unfähig, selbst einfache Aufgaben im Haushalt zu erledigen. Der Vater ist fast nur noch im Stall anzutreffen und muss es zudem ertragen, dass seine Tiere aufgrund einer aufkommenden Maul- und Klauenseuche getötet werden. Über den fehlenden Bruder spricht dabei keiner, und so entweichen die Geschwister in Traum- und Fantasiewelten.

Jas, „Jacke“ genannt, legt dieses namensgebende Kleidungsstück nicht mehr ab, als ließe sich der Schmerz auf diese Weise verschließen – ein Motiv, das wiederkehrt, als das Mädchen unter permanenter Verstopfung leidet, offensichtlich weil sie nichts mehr von sich „loslassen“ will. Neurotische Störungen und Ticks durchdringen das Leben der Kinder, die sich einen eigenen, Schutz spendenden Kosmos erbauen. Immer wieder tut sich dabei unterschwellig die Frage auf, wer die Verantwortung für Matthies’ Tod im Eis trägt. Gott – das lässt die intensiv praktizierte Religiosität der Eltern nicht zu – kommt als Verantwortlicher nicht in Frage, darf nicht in Frage kommen. An ihm lässt sich nicht zweifeln, und wie stark das Familienleben auch durcheinander gerät, an den Gottesdienstbesuchen hält man, Contenance bewahrend, eisern fest: „In der orthodox-kalvinistischen Kirche am Deich sitzen wir immer in der vordersten Bank – am Vormittag, am Abend und manchmal auch mittags zum Kindergottesdienst –, so dass alle uns hereinkommen sehen und wissen, dass wir trotz unseres Verlustes doch wie immer in das Haus Gottes treten, dass wir trotz allem doch noch an Ihn glauben.“

Beeindruckend beklemmend

Jacke hingegen fühlt sich schuldig am Tod des Bruders, da sie vor Weihnachten Gott darum bat, ihr geliebtes Kaninchen vor der Verarbeitung als Festbraten zu bewahren und stattdessen Matthies abzuholen. Hinzukommen, als in der Schule der Holocaust behandelt wird, beklemmende Imaginationen, dass im Keller des Hofes Juden versteckt gehalten würden, und auch die Annäherungen der Geschwister an eine stark analfixierte Sexualität sind eher verstörend denn erfreulich. Die Faszination für alles Geschlechtliche bleibt dennoch ungebrochen. Mit magischen Beschwörungen versucht Jacke sogar das Sexualleben ihrer Eltern zu reaktivieren, als sie einem Krötenpaar, das kaum merklich an Salatblättern herumkaut, Anweisungen gibt: „‚Morgen paart ihr euchʼ, sage ich. Manchmal muss man sich klar ausdrücken, Regeln aufstellen, sonst macht jeder mit einem, was er will.“

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