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Mit „Fremdenpaß“ unterwegs

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Um diese Frage zu beantworten, muß man — auch dem Vorwurf des .„Personenkults“ (im Osten wird euphemistisch damit der Stalinismus gemeint) zum Trotz — persönlich sein. Ich war und bin auch heute über NS-Todeslager und Konzentrationslager des Stalinismus, abgrundtiefe Erniedrigungen und verspätete Rehabilitierungen hinweg mit vielen Fasern meines Wesens mit der jüngsten Geschichte und den vielgeprüften Menschen Ungarns eng verbunden. Doch habe ich nunmehr fast die Hälfte meines „reifen“ Lebens (das heißt seit dem 18. Lebensjahr) In Österreich verbracht. Ich kenne dieses Land von Oberwart bis Alpbach, von der Meierei in Füllenberg bis zum Seehotel in Aitaussee, von Linz bis Villach besser als jedes andere Land auf der Erde. Mit meinen Freunden habe ich hier in

Untermiete gewohnt — In Favoriten und im dritten Bezirk, in Flo-ridsdorf ebenso wie in Hietzing. Wir haben alte Wagen gekauft und aßen in der WÖK, wir waren beim Gottesdienst in der Karlskirche und am Abend bei Schlusche in Hietzing. Reisten wir ins Ausland mit einem „Fremdenpaß“, mußten wir bei der deutschen Grenze aussteigen, um uns im Wachzimmer den Grenzbeamten persönlich vorzustellen, wollten wir Venedig und Florenz sehen, so mußten verläßliche Österreicher und zeitweilige Arbeitgeber für uns für das Gamet beim Touringclub bürgen ...

Doch wir waren zum erstenmal seit 1947 / 48 wirklich frei in einem Land, in dem uns jeder einzelne Staatsbürger, dem ich persönlich begegnet war, menschlich und hilfsbereit behandelt hat. Wir mußten ohne Vergangenheit eine neue Existenz aufbauen. Bis meine Mutter 1962 endlich die Ausreisegenehmigung aus Ungarn erhielt, hatte ich unter drei Pseudonyms neben englischen Blättern und amerikanischen Monatsschriften hier für die „Presse“ und die „Zukunft“, für „Heute“ und die „Neue Tageszeitung“ Artikel geschrieben. Andere Ungarn haben in ihrer neuen Heimat vielleicht eine größere Karriere gemacht als wir hier in Österreich. Etwa mein Freund, dessen Name — Autor eines

Buches über Chruschtschow — von den Leuchtreklamen des Piccadilly strahlte, als ich 1959 in London eintraf. Oder mehr Geld verdient, wie der Freund in Paris, der im Auftrag des „Kongresses für kulturelle Freiheit“ praktisch die halbe Welt bereiste, um Vorträge über seine damals noch in Ungarn inhaftierten Kollegen zu halten. (Daß diesen Schriftstellern diese Art von „Hilfe“ weniger geholfen hat als ein Brief von Sartre oder Silone, gehört nicht zur Sache...) Doch sind fast alle meine Freunde und Bekannten, die 1956 Ungarn verließen und nun in Florida oder London, Paris oder Rom leben, dort grundsätzlich Fremdkörper geblieben.

Es gibt nur ein einziges Land in der Welt, wo ungarische Intellektuelle „im Staatsinteresse“ oft nach zwei — oder wie ich nach zweieinhalb Jahren — die Staatsbürgerschaft erhalten haben und jetzt mit österreichischem Reisepaß — ohne jeden Hinweis über „Naturalisierung“ — in der ganzen Welt herumreisen können. Im Jahre 1956 schrieb ein ungarischer Journalist einen langen bewegten Artikel darüber, daß er im Alter von 36 Jahren einen Reisepaß erhalten hätte, den er nebenbei nach jeder Reise wieder abgeben mußte. Uns, die an den Grenzen diesen Reisepaß auch nach sechs Jahren stolz vorzeigen, scheint das Gerede von „einem Geflunker einer österreichischen Nation“ unerträglich und Diskussionen über „österreichische Nation“ wahrhaft gespenstisch.

Noch wichtiger: es gibt kein einziges Land, wo sich „Zugereiste“ so — mühelos und menschenwürdig — akklimatisieren könnten. Es gibt kein Land, wo Ungarn, die noch vor einigen Jahren in einem langen Wintermantel — bis zu den Knöcheln reichend — und ohne Sprachkenntnisse auf der Kärntner Straße und im Domino-Espresso, in Studentenheimen und in Hospizhotels herumgeirrt sind, nun als vollwertige, geschätzte und vollintegrierte Elemente der Gesellschaft leben, arbeiten können und sich „eingewienert“ haben. Daß ein Freund von mir heute Direktor eines großen Ringhotels, ein anderer künstlerischer Leiter einer Filmgesellschaft, ein dritter Leiter eines wissenschaftlichen Institutes, ein vierter erfolgreicher Gewerbetreibender ist — all dies kann man nicht nur auf das Konto der „Tüchtigkeit“ schreiben. Eher zeigt dies, daß die Toleranz und die alles

„Fremde“ in sich aufsaugende offene Haltung der alten Monarchie auch heute weiterlebt. Darüber, was dieses kleine Land in jenen schwierigen Tagen der Jahre 1956 und 1957 für die beinahe 200.000 ungarischen Flüchtlinge getan hat, soll ich ja hier nicht sprechen. Das ist ein Ruhmesblatt neuer österreichischer Geschichte und ein leider nur allzu selten nachgeahmtes Beispiel für viel mächtigere Staaten.

Wir waren nie fremd

Doch, waren wir so fremd? Sind wir trotz unserem Akzent und vielleicht unterschiedlichem Temperament eigentlich „Fremde“? Ich glaube nicht. Irgendwo, irgendwann kommt — vielleicht gerade in dieser mühelosen Eingliederung — die Vergangenheit zum Ausdruck. Mein Großvater ist in Wien in die Handelsschule gegangen und meine Großmutter (väterlicherseits) hatte

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