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Moderner Orpheus mit Geräuschmusik

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Vor sieben Jahren gab es bei den Donaueschinger Musiktagen einen richtigen Konzertskandal, als während der Aufführung bzw. Tonbandwiedergabe der „Musique concrete“ von Pierre Henry zu dem Drama „O r p h e e“ ein großer Teil des Publikums protestierend den Saal verließ. Nun haben wir diesen inzwischen berühmt gewordenen neuen „Orpheus“ als abendfüllendes, zweiaktiges Ballett im Großen Haus am Ring gesehen und gehört. Und nicht einmal das Abonnementpublikum der Vorstellung vom 18. November zeigte sich schockiert oder gar pfeiflustig. Diese Ballettdichtung Maurice B e j a r t s ist in der Tat fesselnd und originell. Weder mit dem bekannten Orpheusmythos noch mit dem fast ebenso bekannten Cocteau-Film hat dieser neue getanzte „Orphee“ etwas zu tun. Die acht Bilder zeigen den modernen Menschen in seiner Einsamkeit, in seiner Erwartung ohne Hoffnung, in dem Versuch, sich in der Liebe zu bergen, in dem erfolglosen Streben, den Tod (im Kartenspiel) zu besiegen, im Kampf gegen die Menge, im Triumph schließlich des Gesangs (der Dichtung, der Kunst im allgemeinen), über die Vergänglichkeit. Das alles wird in phantasievollen Bildern, Pantomimen und Tänzen dargestellt, in einem symbolischen Spiel, das die Alogik des Traumes hat, sich im Detail aber der genauen Interpretation entzieht. — Als Partner hatte Maurice Bejart (in der Titelrolle) die schlanke und geschmeidige Janine C h a r r a t (in der Rolle des „Schattens“). Tania Bari (Eurydike), Venus im Taschenformat (M-lle Carrie) und den dämonischen Germinal Casado als Tod. Die durch mehrere Lautsprecher wiedergegebene „Musik“ brummt, flötet, pfeift, zischt, knattert, donnert, heult — und manchmal klingt sie auch. Jedenfalls aber ist sie eine faszinierende und passende Klangkulisse für Bejarts orphische Phantasien.

Das erste Programm, mit dem das „Ballett des 2 0. Jahrhunderts“ vom Theätre Royal de la Monnaie, Brüssel, in der Wiener Staatsoper gastierte, brachte unter dem Titel „Huldigung an Strawinsky“ drei große Ballette des russischen Meisters, der wie kein anderer zeitgenössischer Komponist das neue Ballettrepertoire bereichert hat. „P u 1 c i n e 11 a“,

1920 an der Pariser Großen Oper mit Bühnenbildern von Picasso und unter der Leitung von Ernest Ansermet uraufgeführt, ist nach Musik von Pergolesi geschrieben; die Handlung folgt einer alten italienischen Komödie. In den rekend-bunten Kostümen und Bühnenbildern von Bernard D a y d e und mit Maurice Bejart als Pulcinella wurde dieses heitere Spiel witzig und ein wenig persiflierend im Stil der Com-media dell'arte agiert. — „Jeu de Cartes“, eines der geistvollsten und schwierigsten neueren Ballette, schrieb Strawinsky 1937 für seinen Freund, den Choreographen Balanchine. Die von Germinal Casado gestaltete Szene zeigt eine riesige, feuerrote Spielfläche vor schwarzem Hintergrund, in den ein grellbeleuchtetes weißes Dreieck hineinsticht. Die als Karten kostümierten Tänzerinnen und Tänzer — in den Farben Schwarz, Weiß und Rot —, vom Joker angeführt und verwirrt, führen ein Spiel von Liebe und Eifersucht, Intrige und Ambition auf. Die witzige, mit klassischen Zitaten sarkastisch gespickte Musik Strawinskys bestimmt auch den Stil der Choreographie von Janine C h a r r a t, die sich in „Orphee“ als Solotänzerin vorstellte und gemeinsam mit Maurice Bejart die junge Truppe betreut.

Diese trat am eindrucksvollsten in dem berühmten Ballett „Die F r ü h 1 i n g s f e i e r“ in Erscheinung, das Anno 1913 im Theätre des Champs Elysees einen der größten Theaterskandale hervorgerufen hat. Im Konzertsaal ist der „Sacre“ bereits heimisch geworden, aber auf der Bühne bereitet dieses barbarische, russisch-heidnische Werk immer noch Schwierigkeiten. In seinem — sehr modernen — Ballettführer schreibt zum Beispiel O. F. Regner: „Keine Choreographie kann sich mit dieser Komposition messen, die der

Musiker liebt und verehrt, die dem Choreographen aber ein Horror ist. ,Sacre' liegt in jenem Bereich, den Ballettmeister noch nicht betreten können.“ — Nun, vor zwei Jahren hat ihn in Berlin die große Mary Wigman betreten. Und jetzt versuchte Maurice Bejart sein Glück mit dem „unmöglichen“ Stück — und heimste dafür bereits, innerhalb eines Jahres, drei große Preise der französischen Kritik ein. Man wäre geneigt, ihm nach der Wiener Aufführung einen weiteren zuzuerkennen. — Zwar löste sich Bejart von dem Szenarium Strawinskys mit seinen vielen Szenen. Aber dem Geist dieser Musik ist er treu geblieben und gestaltet mit seinen 47 jungen Tänzern eine kultische Frühlingsfeier, die von atemraubender

Intensität und Dynamik ist. Die Gruppe der Jünglinge vor einem männlichen Symbol, die der jungen Mädchen vor einer Reihe keltischer Hünensteine (Menhire), Liebeswerben und Schlußapotheose: das ist ebenso einfach und überzeugend wie „au6 dem Geist der Musik“ gestaltet, so daß man es sich besser kaum vorstellen kann.

Mit diesen beiden Programmen schenkte uns das erst seit kurzem bestehende „Ballett des 20. Jahrhunderts“, dessen musikalischer Leiter der an der Wiener Musikakademie ausgebildete junge Dirigent Andre Vandernoot ist, zwei künstlerisch wertvolle, geistig anregende Abende des zeitgenössischen Musiktheaters — seltene Ereignisse in unserem Opern- und Ballettalltag, über den in größerem Zusammenhang noch zu sprechen sein wird.

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