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Moro geht einen schweren Gang

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Im 35. Kongreß der Sozialistischen Partei Italiens hat es einen Augenblick gegeben, in dem sich das menschliche Gefühl wie ein Sonnenstrahl durch das graue Gewölk der Parteidogmatik und politischen Abstraktion Bahn brach und als lichtere Atmosphäre über der Ansammlung der 600 Delegierten verdichtete. Es war am Schluß seines langen, selbstkritischen Bekenntnisses, daß Pietro Nenni, der 72jährige Führer der italienischen Sozialisten, ausrief: „Wenn ich mit einem einzigen Satz ausdrücken

sollte, was mich in meinem langen Leben als politischer Kämpfer am meisten getroffen hat, dann ist es dieses: das Drama der versäumten Möglichkeiten, der Dinge, die man im revolutionären Sinne oder innerhalb des demokratischen Lebens hätte tun können und nicht getan hat, aus einer Vielzahl von Gründen, von denen jeder einzelne auch seine Gültigkeit hatte, die aber oft nur als Alibi dienten, um das Mögliche beiseite zu schieben und durch die berauschende Vision schönerer,

radikalerer, aber unmöglicher Dinge zu ersetzen.“

Demokratie = Freiheit

Pietro Nenni hat in diesem Satz auch das Drama seines eigenen Lebens erzählt: Auch er hat schon von schönen, aber unwirklichen Dingen geträumt, um jetzt seinen Genossen zu sagen, daß Demokratie und Freiheit eine Sache seien und nicht an der Seite der Kommunisten erreichbar sind. Noch eindringlicher werdend, hat Nenni auf ein historisches Beispiel verwiesen, das den

meisten in Erinnerung geblieben ist, oft als unterschwellige Selbstanklage: bei den Wahlen 1919 hatte Mussolini 4000 Stimmen erhalten und der Sozialist Turati 188.000;

1921 waren es nicht viel mehr oder weniger gewesen. Aber im Herbst .922 erfolgte der faschistische Marsch auf Rom. Dazwischen lag der 19. Sozialistische Parteikongreß. Er wurde in Rom vom 1. bis 4. Oktober 1922 abgehalten und brachte „eine unnütze und melancholische Spaltung“. Er hatte dem Vormarsch der Faschisten nicht Einhalt zu gebieten vermocht.

1922 und 1963

Gibt es eine Parallele zwischen dem i Versäumnis von 1922 und dem politischen Augenblick des Herbstes 1963? Italien hat keinen Mussolini und die Faschisten sind zu einem traurigen Häuflein Auswegloser zusammengeschrumpft. Aber Italien hat eine kommunistische Partei, die rund ein Viertel der Wähler hinter sich hat und mit Virulenz das gesamte öffentliche Leben durchdringt. Mit wessen Hilfe sollten sich die demokratischen Parteien des Kommunismus erwehren, wenn sich die Sozialisten versagen? Mit der politischen und wirtschaftlichen Rechten? Die italienische Nation würde ihnen nicht auf diesem Wege folgen. „Der außerordentliche Charakter des Kongresses liegt in der Tatsache, daß seine Beschlüsse sofort wirksam werden, in den vierzehn Tagen, die vor uns liegen, inmitten einer Krise, die, sich selbst überlassen, erschreckende Probleme aufwirft und vielleicht auch das des Überlebens der demokratischen und republikanischen Einrichtun- gen.“ Hier hat Nenni die Problematik | der „Linksöffnung“ berührt, jenen Prozeß der Amalgamierung der Sozialisten mit den demokrati- schen Parteien der linken Mitte, indem man mit ihnen die Regierungsverantwortung teilt.

Der Kongreß hat Nennis Antrag, mit den Christlichdemokraten, Sozialdemokraten und Republikanern in Verhandlungen für eine Koalition einzutreten, ratifiziert, die Regierung Leone ist zurückgetreten und die Krise ist formell eröffnet. Für den DC-Parteisekretär Aldo Moro beginnt die verantwortungsvollste Zeitspanne seines Lebens. Denn selbst wenn die Verhandlungen günstig verlaufen sollten, erwartet die Democrazia Cristiana an der Seite des neuen willkommenen, aber unbequemen Partners eine schwierige Zukunft. Alle Hebel der Verantwortung, alle Kommandostellen sind bisher mehr oder weniger durch Christlichdemokraten besetzt gewesen. Manche davon werden sie nun abtreten müssen. Es kann die interklassistische DC in ihrer Einheit einer Belastungsprobe ausgesetzt werden. Alle diese bangen Fragen stellten sich schon der katholischen Partei, wenn sie es auch nur mit Pietro Nenni zu tun hätte. Aber die Dinge werden komplizierter, weil die Sozialistische Partei aus zwei, wenn nicht aus drei Sozialismen besteht.

„Übertriebener Atlantismus"?

Ricardo Lombardi zum Beispiel, der doch zur Mehrheitsgruppe Nennis gehört, hat mit seinen Ausführungen auf dem Parteikongreß im demokratischen Lager schockierend gewirkt, besonders dort, wo sie Italiens außenpolitische Position betrafen, denn hier ist es, wo eine lineare und unmißverständliche Haltung besonders vonnöten ist. Lombardi verlangt zwar nicht, daß Italien aus dem Atlantikpakt austritt, gegen den die Sozialisten zur Zeit seines Abschlusses gekämpft hatten. Er verlangt aber, daß Italien eine Haltung aufgebe, die er „übertriebenen Atlantismus“ nennt und welche in den vergangenen Jahren derh Land angeblich geschadet hat, ferner jene Haltung „passiver Erwartung“, die Italien in letzter Zeit auf internationaler Ebene charakterisiert habe. „Wir sind eine neutralistische Partei und glauben, daß die aktive Ladung unseres Neutralismus heute, fast am Ende des Kalten Krieges, auch im Inneren des Bündnisses dienen kann, zum Beispiel um

jede Form von Atombewaffnung Deutschlands zu verhindern, um Nein zum Europa der Vaterländer de Gaulles zu sagen, um die Schaffung atomwaffenfreier Zonen in Europa vorzuschlagen und um mit Atomwaffen ausgerüsteten Überwasserschiffen den Zutritt zu unseren Häfen zu verwehren, kurz, um zum Frieden beizutragen.“ Alle diese Dinge können in der Theorie auch

Saragat: „Wir sind auch noch da“!

Diese Zweifel beunruhigen heute eine weite Schicht der italienischen Bevölkerung. Gewiß, Giuseppe Sa- ragat, der Sekretär der Sozialdemokraten, sagt: „Aber schließlich sind wir auch noch dal“, und die Republikaner zeigen sich nicht bereit, ihre europäistische und atlantische Einstellung aufzugeben, und Pietro Nenni selbst hat den Kongreß aufmerksam gemacht, daß nicht alle in dem Schlußdokument aufgezählten Forderungen durchzusetzen sein werden. Aber man braucht sich nur daran zu erinnern, welche Unruhe

akzeptiert werden, aber eine Regierung muß auch für die Praxis gerüstet sein, das heißt für den Fall, daß die gegenwärtige Atmosphäre der Entspannung durch eine neue Krise unterbrochen wird, wie die um Kuba, und der Westen zu einer Demonstration seiner Einheit gelangen muß. Würden sich Lombardi und die Sozialistenpartei auch dann zum Neutralismus bekennen?

inige Husarenritte Fanfanis in der iternationalen Presse hervorgeru- sn wurde, um zu verstehen, daß das uerst verbreitete Gerücht, Aminate Fanfani werde in der neuen legierung das Außenministerium bernehmen, da und dort heftige Reaktionen ausgelöst hat. Niehl ur die Verhandlungen, sondern uch der Weg des Kabinetts Moro - wenn wir dieses als gegeben vor- zegnehmen wollen — wird also mil lißtrauen gepflastert sein.

Aber die Frage, ob man dann

nicht besser die „Linksöffnung“ hätte vermeiden sollen, erübrigt sich mit der Feststellung, daß keine Alternative für sie vorhanden ist. Nicht nur die Democrazia Cristiana befindet sich in einer Zwangslage, die sie veranlassen wird, manches zu schlucken, was ihr vor einem Jahr noch als unannehmbar erschienen wäre, die Schaffung der Regionen ohne Spezialstatut etwa, auch wenn sich die Sozialisten nicht verpflichten wollen, jetzt schon zu erklären, daß sie in den neuen Regionen unter keinen Umständen mit den Kommunisten Zusammengehen werden. Die Sozialistische Partei Italiens hat in der „Linksöffnung“ ihren Weiterbestand eingesetzt, noch mehr als die DC, und für sie gibt es ebensowenig ein Zurück wie für die katholische Partei. Denn in einem Mißlingen des Unternehmens würde sich Italiens Sozialismus aufreiben und in der Sozialdemokratie wie im Kommunismus aufgehen. Darin liegt eine Garantie dafür, daß der PSI aus Demagogie die Zusammenarbeit mit der DC aufgibt.

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