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Moskaus Werben um Paris

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Nach Auffassung des britischen Außenministers habe die Ankündigung des Besuchs Chruschtschows n Bonn in entscheidendem Ausmaß :um Sturz des sowjetischen Regie- •ungschefs beigetragen. Diese Mei- mungsäußerung wird in Frankreich del kolportiert und dahin ergänzt iaß sich die Außenpolitik des {remis allem Anschein nach am Vor- ibend einer Neuorientierung be- inde. Natürlich liegt es nahe, daß ier Quai d’Orsay in diesem Stadium les Übergangs und der allgemeinen Unsicherheit, der durch ein gewisses Dogern in Moskau gekennzeichnet st, keine verbindlichen Zukunftsprognosen abzugeben wagt. Aber in

irivaten Gesprächen lassen Politiker md hohe Beamte zuweilen durch- ilicken, daß das „Neue“, das sich linter den Kulissen vorbereite, wenn luch nicht den Zusammenbruch des 'egenwärtigen Allianzsystems, so loch eine Entwicklung einleiten könnte, an deren Ende die Verwirk- ichung der gaullistischen Vision lines vom Atlantik bis zum Ural eichenden Europa stände. Freilich, o fügen manche Beobachter’ hinzu, nüsse man damit rechnen, daß der Schwerpunkt des so gewandelten Europa, ebenso wie der des heuti- ;en, nicht an der Seine liegen vürde. Jedenfalls kann man nicht äsen, daß das betonte Bemühen

der zeitweiligen Kremlspitzen um die französische Freundschaft eitel Begeisterung im Land auslösen würde, am wenigsten bei denjenigen, die einen Erfolg der Moskauer „Offensive des Lächelns“ für möglich halten.

Das „aufgeregte Hündchen“

In Moskau hat man dem Faktor Frankreich — sowohl in politischer Hinsicht, als auch als Machtpotential — seit dem zweiten Weltkrieg niemals ein besonderes Gewicht beigelegt. Noch bei der letzten Außen- tninisterkonferenz in Genf hat ein sowjetischer Pressekorrespondent Frankreich als „aufgeregtes Hündchen, das unter dem sicheren Zaun lervorkläfft“, charakterisiert. Später, rach Unterzeichnung des deutsch- iranzösischen Vertrages, glaubte Chruschtschow den Franzosen prophezeien zu können, daß sie in absehbarer Zeit Opfer ihres neuen Verbündeten werden würden. Bis in lie letzte Entwicklungsperiode hinein schlossen die Sowjets Frankreich n den Kreis der aggressiven NATO- Vlächte ein, denen man en bloc mit ier üblichen Polemik zu begegnen pflegte. De Gaulles Emanzipations- pestrebungen gegenüber den Amerikanern wurden in Moskau nicht pesonders ernst genommen und die

— weitgehend theoretisch bestimmte

— französische Südostasienpolitik, ’and, obwohl sie weitgehend den Interessen des Kremls entsprach, kaum Beachtung bei den sowjetischen Machthabern

Umgekehrt löste die sowjetische Mißachtung bei den empfindlichen Franzosen logische Reaktionen aus: De Gaulle griff in zahlreichen Erklärungen neben der amerikani- chen auch die sowjetische Hegemone an. Und in der Frage Berlins interschied sich die grundsätzliche Position der französischen Regierung venig von der Haltung Washingtons. Die deutsch-französische Freund- chaft bekam, zumindest nach außen lin, den Charakter der politischen Solidarität im Bereich gewisser leutscher Zielsetzungen. Und die Sowjets taten bei der Erteilung der chlechten Zensuren an die französi- che Außenpolitik so, als sähen sie licht die Grenzen zwischen Realität ind Deklamation, als wüßten sie licht, daß das Anliegen der deut-

sehen Wiedervereinigung von de Mehrheit der Pariser Politiker - zumindest für einen Übersehbarei Zeitraum — als fromme Utopie an gesehen wird, und daß die Oder Neisse-Linie längst von Genera de Gaulle öffentlich als deutsch, Ostgrenze anerkannt wurde.

Das alles hat sich kurze Zeit naci Chruschtschows Sturz — mar möchte sagen, über Nacht — schlagartig gewandelt. Die Unterzeichnunj eines sowjetisch-französischen Handelsvertrages für die Periode 196( bis 1970 soll den Austausch zwischen den beiden Ländern um mehi als 50 Prozent erhöhen und Pari; zu einem ebenso wichtigen Handelspartner Moskaus machen, wie ei bisher Bonn gewesen ist. Anläßlich des vierzigsten Jahrestages der Anerkennung der Sowjetunion durct Frankreich feierte der Präsident des Präsidiums des Obersten Sowjets Mikojan, die Bewährung der sowjetisch-französischen Freundschaft. Ei sprach die Überzeugung aus, daß die Beziehungen der beiden Länder „aui allen Gebieten“ zur Erhaltung dei Sicherheit in Europa und des Weltfriedens beitragen würden. De Gaulle beeilte sich in seinem herzlich gehaltenen Antworttelegramm der Sowjetunion die Freundschaft Frankreichs zuzusichern und ihrem Volk Prosperität zu wünschen. Außenministei Gromyko telegraphierte seinem Pariser Kollegen Couve de Murvilte in ähnlichem Sinn. Die Zeitungen „Prawda“ und „Iswestija“ fühlen sich plötzlich bewogen, die französische Diplomatie der letzten Zeit zu loben. Der Plan de Gaulles einer Neutralisierung Südostasiens wird ebenso wohlwollend hervorgehoben wie das wachsende Interesse der französischen Führung für die Stärkung der neutralistischen Kräfte in der Welt.

Was hat nun den Kreml bewogen, sein Herz für Frankreich zu entdecken? Französische Beobachterweisen auf die stimmungsmäßige Konjunktur hin: Pariser Verstimmung gegenüber der neuen Labour- regierung in Großbritannien wegen der drastischen Zollerhöhung, die gemeinsame Ablehnung der multilateralen Atomwaffe durch Moskau und Paris, die progressive Verschlechterung der deutsch-französi- scheh Beziehungen im - Gefolge-des Streits um die Agrarpreise und jüngster deutscher Angriffe gegen die gemeinsame Produktion des deutsch-französischen Flugzeugs Transall. Vielleicht hat auch die Pariser Bereitschaft zur Gewährung eines langfristigen Lieferungskredits (7 Jahre) an die Sowjetunion Moskau in der Auffassung bestärkt, daß nunmehr der günstige Zeitpunkt gekommen sei, um eine empfindliche Bresche in das abbröckelnde westliche Verteidigungssystem und in den Block der freien westlichen Welt überhaupt zu schlagen. Fragen ohne Antwort

Die Vernunft als Bindeglied

Sollten die sowjetischen Spekulationen tatsächlich auf derartigen Überlegungen beruhen, so erscheinen sie zumindest übereilt. Mag auch General de Gaulles Vorliebe für empirische Entscheidungen den risikoreifen Versuch, ihm für eine etwaige Neuorientierung den Weg zu bahnen, in den Augen des Kremls gerechtfertigt erscheinen, so hieße es, das Maß des französischen Realismus unterschätzen, wollte man von der Pariser Regierung das Abenteuer einer 180gradigen Wendung ihrer Außenpolitik erwarten. Die dem Quai d’Orsay nicht fern- stehene Abendzeitung „Le Monde“ registriert zwar den auf beiden Seiten vorhandenen guten Willen zur Entspannung, warnt aber eindeutig vor weitgehenden Illusionen. Im übrigen erinnert das Blatt daran, daß die Beziehungen zwischen Frankreich und der Sowjetunion in den vierzig Jahren ihres Bestehens niemals einen Gefühlscharakter gehabt hätten, sondern stets ausschließlich von Nützlichkeitserwägungen getragen gewesen seien: Das kommunistische Rußland von 1924 sei Partner Deutschlands im Kampf gegen den Versailler Vertrag gewesen und es habe der Machtergreifung durch Hitler bedurft, um Moskau' zu einer Annäherung an Paris zu bewegen. Der 1935 von Laval abgeschlossene Pakt mit der UdSSR habe das Abkommen von München nteht verhindern können, das die Sowjets ein Jahr später mit dem Stalin-Ribbentrop-Pakt beantworte

ten. Schließlich hatte der 1944 mit Moskau abgeschlossene Vertrag de Gaulles — so schließt „Le Monde“ diese Überlegung — in den Augen des Generals den Zweck, seine Position gegenüber seinen angelsächsischen „Protektoren“ zu festigen, und in den Augen Stalins, eine Stütze für seine Gebietsforde-

ungen gegenüber Polen und leutschland zu finden. Die Frage, b beiderseitige Interessen eine ieue Annäherung Paris—Moskau echtfertigen, läßt das Blatt unbe- ntwortet: Zu viele Unbekannte tmgäben die Absichten der neuen lerren im Kreml und die des fran- ösischen Staatschefs.

Zuversichtlich und abwartend

klassisch für die französische Außenpolitik, die nicht selten mit lern Mittel mehr oder weniger absurder Vermutungen und Hypothesen spielte, um durch einen unausgesprochenen Druck die Haltung der Partner Frankreichs zu beeinflussen. Der Präsident der französischen Republik ist sich dessen bewußt, daß lie Vorstellung eines neuen Pakts twischen Paris und Moskau man- :hem westlichen Politiker diesseits md jenseits des Atlantik schlaflose Mächte bereitet. Dies zu wissen, ist

imi 111C11L uiiaiigciiciiiii. WVOUCUM iürfte er sich hinsichtlich der Mos- cauer Avancen noch eine gute (Veile in Schweigen hüllen, zumal las in Moskau herrschende Über- ’angsstadium eine abwartende Haling Frankreichs rechtfertigen würde.

Inzwischen kann es dem General įur recht sein, wenn die Kontakte :wischen französischen und sowje- ischen Diplomaten von in- und aus- ändischen Beobachtern mit Argus- jugen verfolgt und in der widerspruchsvollsten Weise gedeutet wer

ten. Der Publizist Jean Ferniot ist 1er Meinung, daß der sowjetische 3otschafter Vinogradow, den man in Paris als den „gaullistischsten“ Ver- reter des diplomatischen Korps be- :eichnet, dem Staatschef und dem Außenministerium als Barometer für lie künftigen Entwicklungen im Kreml dienen wird. Sollte das Wersen Moskaus um die französische Freundschaft keine bloße Episode sleiben, so könnte dem „Gaullisten“ inogradow eine wesentliche Schlüs- lelrolle zufallen.

Noch scheinen aber diese Dinge licht ausgereift. Die Wochenschrift .L’Express“ berichtet, daß der Ge- reral am 19. Oktober, unmittelbar lach dem Besuch des sowjetischen Botschafters, einem engen Mitarbei- ;er gegenüber folgendes bemerkt labe: „Er hat mir gesagt, daß die lowjetische Außenpolitik keine Änderung erfahren werde. Das ist nöglich.“ Dann habe er, nach einem curzen Schweigen hinzugefügt: „Ob JS stimmt, weiß ich nicht. Er übrigens auch nicht.“

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