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Münchhausen aus Böhmen

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DAS ENDE DER ALTEN ZEITEN. Roman von Vladislav Vanöura. Rheinische Verlags-Anstalt GMBH., Wiesbaden. 331 Selten. DM 19.80.

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DAS ENDE DER ALTEN ZEITEN. Roman von Vladislav Vanöura. Rheinische Verlags-Anstalt GMBH., Wiesbaden. 331 Selten. DM 19.80.

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Die tschechische Prosa hat ihre Not, sich in der Welt draußen zu behaupten. Mit der Kunst und dem Handlungsreichtum in den Büchern der großen Literaturen vermag sie schwerlich zu konkurrieren. Sie kann sich jedoch durch die Originalität ihrer Form durchsetzen, wofür alle Voraussetzungen gegeben sind: die dichterische Tradition, das Element der Sprache und das Spiel mit ihr. So paradox es klingt — die schwierigere, kompliziertere Prosa hat mehr Aussicht, in einer fremden Sprachsphäre jenseits der tschechischen Grenzen zu bestehen. Und zwar jene Prosa, deren Sinn im Wort verborgen liegt, die immer wieder zum. verborgenen Sinn der Wörter zurückkehrt. Damit halten wir bei Vancura, dessen Sprachkraft und -Phantasie ihm eine Sonderstellung unter den Schriftstellern seiner Epoche sicherte. In seinem artistischen, ganz eigenen Idiom mit den kühnen Metaphern und den gewagten syntaktischen Konstruktionen vollzog sich die Verwandlung des Vorbildes — Flaubert — ins Slawische. Vancura stand so vor allem im strikten Gegensatz zu den mehr „volkstümlichen“, der kleinbürgerlichen Umgangssprache verhafteten Capek oder . Hasek. Revolutionäre der tschechischen Sprache, repräsentierten sie auch drei Ebenen der zeitgenössischen Literatur und des tschechischen Schicksals.

Vancuras Anerkennung war lange umstritten, sein Werk auch von sehr maßgeblichen Kritikern (wie F. X. Saida) als „formalistisch“ abgetan. Wenn er heute in seinem Land als „der größte moderne Prosaiker“ der tschechischen Literatur gut, so.geht diese Einschätzung nicht zuletzt auf die führende Rolle zurück, die er im organisierten Widerstand tschechischer Intellektueller gegen die deutschen Okkupanten eingenommen hat. Er wurde am 1. Juni 1942 im Zuge der Vergeltungsmaßnahmen nach dem Attentat auf Heydrich hingerichtet. Vancura, der jahrelang zu Masaryks berühmter „Freitagsrunde“ zählte, Nachfahre der dem Urchristentum nachstrebenden Böhmischen Brüder, Humanist und ritterliche Erscheinung von hohem geistigen Adel, hatte in seinen „Bildern aus der Geschichte des tschechischen Volkes“ ein Werk geschaffen, das der bedeutende Ästhetiker Jan Mukarovsky in seinem Buch über Vancura als „eine der größten tschechischen Taten“ während des Abwehrkampfes wertete.

Schon vor 1938 gab es Vancuras Hauptwerke in deutschen Übertragungen: der grinsend-anklägerische Kriegsroman „Acker- und Schlachtfelder“, die Prosadichtungen „Der Bäcker Jan Marhoul“ und „Marketa Lazarovä“. Marhoul, der Narr Gottes und reine Tor, eine unverkennbar und unnachahmlich, ganz und gar tschechische Gestalt; Marketa, balla-desk erzähltes Schicksal der schönen Räuberbraut unter den letzten böhmischen Raubrittern; ferner der moderne Schelmenroman „Das Ende der alten Zeiten“. Ihr Widerhall blieb gering, verfiel der Ungunst und Ungewißheit der Zeit, in der sich bereits die nahende Katastrophe ankündigte. Seit einigen Jahren haben west- und ostdeutsche Verlage Vancura wiederentdeckt und die drei letztgenannten Werke in Neuausgaben herausgebracht. Leider ließen die Neuübersetzungen des „Marhoul“ und der „Räuberbraut“ manches zu wünschen übrig. Beim „Ende der alten Zeiten“ wurde weitgehend auf die Erstfassung zurückgegriffen, so daß nun eine dem nur schwer übersetzbaren Originaltext Vancuras halbwegs adäquate deutsche Fassung zustande kam.

Sie liest sich vergnüglich wie je die so köstliche Geschichte, die uns der Filou von Bibliothekar auf dem südböhmischen Schloß Kurzweil über das plötzliche Auftauchen des angeblichen Fürsten Alexander Megalrogow, Obersten des Zaren Nikolaus des Zweiten (es war in den Gründerjahren der Republik), zum besten gibt. Dieser russische Oberst, dem sein struppiger Diener Wasyl wie ein Sancho Pansa folgt, ist eine sonderbare Mischung von Don Quichotte und Münchhausen, von obskurem Abenteuer und ritterlichem Lügenmaul, dem alle Kinder-, Madchen- und Frauenherzen zuschwärmen. Eine hübsche Weile schmarotzt er in der Gesellschaft des neuen republikanischen Schloßherrn, hält alle in Atem, verdreht allen die Köpfe, und als er schließlich, da ihm der Boden allmählich doch zu heiß wurde, auf Nimmerwiedersehen verschwindet, da gehen immer noch die Meinungen auseinander, ob er ein Herr und „Fürst des Lebens“ oder bloß ein betrügerischer Schelm gewesen sei. Eines nur weiß man am Ende, daß „sein Pelz“, den er selbst im Sommer trug, stets „mit Narrheit unterfüttert“ war. Im Kapitel „Torheit der Liebenden“ verbirgt sich die vielleicht zauberhafteste Liebesromanze der neueren tschechischen Literatur, und „Die Erzählung von

den russischen Weihnachten im Feld“ („jene lästerliche oder über alle Maßen fromme Mär aus Sibirien“) ist lauterste Dichtung in Prosa. Unter den drei meisterhaften Prosawerken Vladislav Vancuras ist dieses sein liebenswertestes.

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