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Muse im Busch

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In der Kunst, wie in der Geschichte, wird man der einschneidenden Begebnisse nur selten gewahr, während sie sich vollziehen. Erst die Nachwelt vermag zu sagen, welches Werk es war, das eine Epoche abschloß oder mit dem eine neue anhob. Als Picasso im Frühjahr 1907 seine „Demoiselles d'Avignon“ zu malen begann, ahnte nicht einmal er selbst, daß damit die kubistische Schule begründet wurde. Richtungen entstehen freilich nicht immer mit einem einzigen Buch, einem einzigen Bild, einer einzigen Komposition. Will man dem Wirken des Zeitgeistes trauen, so wenden sich schöpferische Menschen an verschiedenen Orten plötzlich der gleichen Form, den gleichen Inhalten zu. Langsam verschränken sie sich sodann zu einer „Bewegung“, und als solche ziehen sie schließlich in das kulturelle Bewußtsein der Menschheit ein. Nicht viel anders begibt sich die Mündigwerdung eines nationalen Schrifttums: wenn es die nötige Dichtung und Bindekraft erreicht hat, rückt es geschlossen vor. Auch dieser Zeitpunkt ist zumeist nur im Rückblick festzustellen. Eine Ausnahme bildet, was sich in diesen Tagen abspielt — der Anbruch und Einzug der australischen Literatur.

Ihre Anfänge liegen nicht allzu weit zurück. Der erste verbürgte australische Dichter war ein gewisser Michael Massey Robinson, der 1747 in England geboren wurde und nach einer abgesessenen Zuchthausstrafe in die Kolonie auszuwandern beschloß. Am Hof des Gouverneurs Macquarie in Sydney rezitierte er zu feierlichem Anlaß seine steifen, sykophantischen Oden und wurde dafür als Poeta Laureatus eingesetzt und entlohnt. 1819 erschien der Versband eines Gelegenheitsdichters, Barron F i e 1 d, unter dem rührend-zuversichtlichen Titel „Erste Früchte aus australischer Poesie“. Indes die Kolonie mit dem Zuzug freier Settier und nach den ersten Goldfunden raschen Aufschwung nahm, regten sich auch die Künste. In den sechziger Jahren tauchten in New South Wales zahllose literarische Vereine auf, die den Bal-ladeujchatz, die Fabeln, Lieder und Legenden der Einwanderer, der Ochsenkärrner, Viehzüchter, Wollscherer, Buschförter, Pioniere, Forschungsreisenden, Soldaten und Vagabunden sammelten und niederschrieben. „Waltzing Matilda“, jene Ballade vom diebischen Landstreicher, die zum bekanntesten Volkslied Australiens werden sollte, wurde von A. B. P a t e r s o n um die Jahrhundertwende aufgezeichnet. Um dieselbe Zeit entstand die erste Epik der Kolonie.

Es war ein hartes und rauhes Land, ein Männerland, das die Söhne der Strafkolonisten und der abenteuerlustigen Einwanderer dem Busch und den schwarzen Ureinwohnern entrissen hatten. Vielleicht blieb es darum ursprünglich den Frauen überlassen, es in Romane zu verweben, so wie man wilde Tiere, Löwen und Känguruhs als hübsche Motive in einen Netzvorhang stickt. Die wichtigsten Prosawerke Australiens in den ersten drei Dekaden unseres Jahrhunderts stammen von Schriftstellerinnen — von Henry Handel Richardson, die in Wahrheit Ethel Robertson hieß, von (Stella Mary) Miles Franklin, von Eleanor D a r k, Kylie T e n-n a n t und Katherine Susannah P r i c h a r d. Nur ein einziger Mann, Joseph F u r p h y, der unter dem Namen Tom Collins schrieb, konnte sich neben ihnen behaupten. In all diesen Büchern wurde die kurze, aber wechselvolle Geschichte ihres Landes nacherzählt, wurden die wenigen Generationen, denen es seinen Aufstieg verdankte, in „romans fleuves“ aneinandergereiht. Und schließlich fand sich auch ein eifriger Chronist romantischer Neigung, ein gewisser E. V. Timms, der in einer zwölfbändigen „Australian Saga“ die Entwicklung seines Volkes von 1831 — der Ankunft der ersten freien Siedler — bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges festhielt.

Weshalb war es keinem von ihnen bestimmt, in die Literatur einzugehen? Sie waren brave Handwerker, gewissenhafte Erzähler, denen es dennoch nicht gelang, sich im kulturellen Raum bemerkbar zu machen. Dieser kulturelle Raum schwebt noch immer unsichtbar über einer Ausdehnung, die sich vage zwischen den Städten London—Paris—Rom—Wien—Berlin—London erstreckt, und wer in ihm nicht früher oder später von sich reden macht, bringt es nicht zum Weltruhm. Zwei australischen Autoren ist dies vor kurzem gelungen. Ein dritter hat sich nun dazugesellt. Mit ihnen tritt eine ganze Reihe ihrer Landsleute und Zeitgenossen auf den Plan. Vorerst noch in England, aber auch schon auf dem europäischen Kontinent, beginnt das Licht aufzublitzen, das von den Antipoden kommt.

D'Arcy N i 1 a n d s „Shiralee“ machte den Anfang. Dieses Buch über die klassische australische Figur eines Landstreichers und Gelegenheitsarbeiters, eines „swagman“, der mit dem Bündel auf dem Rücken durch Buschland und Gebirge zieht, gewann die Bewunderung der gesamten angelsächsischen Welt. In England rasch zum Bestseller geworden, wurde*es in neun Sprachen übersetzt, und wenn es auch in-Deutschland noch nicht genügend Anerkennung fand, wird man sich dort wohl mit der Zeit dem Urteil des Westens beugen. Niland ist ein prächtiger junger Mann, der sich sein Leben als Grubenarbeiter, Wollscherer, Bäcker und Boxer verdiente, ehe er zu schreiben begann. Seine Prosa ist knapp, von hemingwayschen Lakonismus, zugleich jedoch von poetischer Bildhaftig-keit. Aus ihr ersteht die rauhe, rührende Primitivität des australischen Volkes, die wilde Ur-kraft der Siedler im Busch und die Kleinbürgerlichkeit der Stadtbewohner, deren Lebensstil in so vielem dem der Londoner Cockneys gleicht. Dieselbe Atmosphäre entsteigt dem ersten Stück eines australischen Autors, das über London den Weg auf europäische Bühnen nahm. Ray L a w--1 e r s „Sommer der siebzehnten Puppe“ schildert einfache Existenzen in einer schwierigen seelischen Situation — das Altern harter Männer und sentimentaler Frauen auf einem Hintergrund billiger Häuslichkeit. Gleich Tennessee Williams führt er uns in eine fremde Welt; doch sein Realismus ist niemals kraß, steigert sich auch nie zur Poesie, und wirkt allein durch die Eintönigkeit des grauen, nur durch kitschigen Flitter belebten Milieus.

Niland und Lawler vermitteln das Australien unserer Tage. Patrick W h i t e, der an Bedeutung weit über sie hinausreicht, stellt seine Menschen in einen unbestimmten Zeitraum oder in die jüngste Vergangenheit. Seine frühen Romane „Happy Valley“, „The Living and the Dead“; „The Aunt's Story“ wurden wenig beachtet. Erst mit seinem großangelegten Familienepos „The Tree of Man“ errang er einen durchschlagenden Erfolg. Man verglich ihn mit D. H. Lawrence, sogar mit Tolstoj. Die majestätische Breite seiner Schilderung, die Würde und das Mitgefühl, mit denen er seine Figuren zeichnet, die Wucht und Farbigkeit seiner Handlung ließen Kritiker im gesamten englischen Sprachraum verkünden, daß hier ein Meisterwerk, ja wahrscheinlich der größte australische Roman erschienen sei. Nun, Ja sein letzte* J3uch,1t,yoss“ verptlictwgrdf .fragt;njar,.tim„(?b sjeihre Superlative njehi,. früh bemühten. War „The Tree of Man“ der bisher größte australische Roman, so ist „Voss“ der bisher größte Roman seines Autors. Fraglos ist es ein Buch, wie es nur einmal in einer Dekade erscheint.

Langsam, ja schleppend beginnt es im Sydney des Jahres 1845, dessen zum Wohlstand gelangte Bürger eine Forschungsreise ins Innere des Landes finanzieren. Der sie unternimmt, ist ein deutscher Einwanderer, Johann Ulrich Voss, in dessen hagerem Leib ein visionärer Geist und unbezwingbarer Wille wohnen. Mit einer kleinen Gruppe von Weißen und zwei Eingebogenen zieht er aus, den Kontinent zu durchqueren. Wildnis und Wüste, Regenstürme und Dürre reiben ihn auf, bis die Expedition ihr unvermeidlich grausames Ende nimmt. Auf seiner tragischen Reise wird Voss von der Liebe eines jungen Mädchens begleitet, das er nur kurz gesehen hat, dessen Schicksal aber auf mystische Weise mit dem seinen verkettet ist. Doch nur der dürftige Inhalt kann solcherart nacherzählt werden. Wie es Patrick White gelingt, den lässigen, wohlgeordneten Alltag der reichen Siedler in Sydney mit seinen Picknicks, Dinereinladungen und Bällen gegen die urweltliche, unbarmherzige Natur ihres Landes und die tierhafte Grausamkeit seiner schwarzen Einwohner abzusetzen, ist so wenig wiederzugeben, wie seine Prosa, aus deren epischer Dichte sich immer wieder einzigartige Bilder, Symbole und Visionen erheben, lje aber ist in einem englischen Buch die Figur eines Deutschen so echt, so zwingend beschrieben worden — in ihrer Hoffart und Demut, ihrer Ver-bohrtheit, ihrem titanischen Höhenflug.

Mit Patrick White erobert sich das australische Schrifttum seinen Platz in der Weltliteratur. Neben und hinter ihm ziehen andere Dichter seines Landes heran, darunter Vance Palmer, J. R. Spicer, R. S. Porteous — und mit ihnen ihre eigene wilde, bunte, primitive Welt, eine Welt der noch unbesiegten Landschaft, und der noch unverbildeten Menschen. Es geschieht vor unseren Augen, wir sehen es mit anl Und wenn es später einmal heißen wird, dies habe sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts ereignet, dann können wir sagen, wir hätten es rechtzeitig erkannt.

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