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Musikfest in Siena

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Verschollene Werke aufzufinden, wertvolle, wenngleich nur wenig bekannte oder bereits vergessene Schöpfungen alter und neuer Meister dem zeitgenössischen Publikum in Erinnerung zu bringen und ihrem eigenen Leben in stilistisch authentischen Aufführungen wiederzugeben, ist die Devise, der sich die „Settimana Musicale Senese” im Verein mit der „Accademia Musicale Chigiana” seit ihrer Gründung verschrieben hat. Mit Konsequenz und mit sicherem Gefühl für die spezifischen Werte, die sich in der Musik einer Epoche offenbaren, hat Professor Mario Fahrt, künstlerischer Leiter der Musikwochen und Direktor der Akademie, Jahr für Jahr, neue Kostbarkeiten aus den Archiven geholt, bearbeitet und auch oftmals rekonstruiert.

Eine der ergiebigsten, bei weitem noch nicht restlos erforschten Fundgruben bedeutet das Domarchiv von Santa Maria del Fiore in Florenz, dem die diesjährige, nunmehr „XII. Settimana Musicale Senese” eine besonders wertvolle Entdek- kung verdankt, der sich das Interesse aller Fachleute zuwendet: eine 1527 datierte Passion nach Johannes, geschrieben von dem damals 25jäh- rigen Francesco Corteccia, „Cappel- lano nella Chiesa e Oratorio di San Giovanni Battista”, später Kanonikus von San Lorenzo in Florenz. Es ist dies das erste Mal, daß ein italienischer Autor eine Evangelien- perikope, nämlich die Leidensgeschichte bis auf wenige, von ihm eingeschobene Worte, vollständig und originalgetreu vertont. Die eigentliche Erzählung wurde von dem bekannten Schauspieler und Rezitator Arnoldo Foä gesprochen, während die dramatischen Partien, nämlich Dialoge, Ausbrüche des Affekts der Volksmassen sowie die interpolierten Meditationen, von Clemente Temi und seinem Männerquartett polyphon gesungen wurden. Wie archaische Blöcke türmen sich die sehr kurzen, spannungsgeladenen Phrasen zu einem Berg auf, welchen die zu einem ganz eigentümlich weichen und dabei kristallklaren Timbre geschulten Stimmen von innen her transparent machen. Es war ein Ereignis und wurde auch als solches von dem sehr verständnisvollen Publikum erkannt und bejubelt.

Dieses hat auch Renė Clemenčil, der mit seinem Ensemble „Musica Antiqua” die Aufführungsreihe er- öffnete, einen durchschlagenden Erfolg bereitet und dem hervorragenden Dirigenten, Blockflötenspdeler und Musikwissenschaftler jene ehrliche Begeisterung entgegengebracht, welche dieser mit seinen 17 ausgezeichneten Künstlern und seinen Programmen der Musik des Mittelalters, sowohl in seiner österreichischen Heimat als auch im Ausland allüberall entfacht. Das Konzert in Siena war der „Musik zur Zeit Dantes” gewidmet; es wurde von einem „Salve Regina” des Herman- nus Contractus eingeleitet, brachte eine kostbare Auswahl bekannter und größtenteils anonymer Meister des 13. und 14. Jahrhunderts und wurde mit Guillaume de Machaults „Messe de Notre Dame” beschlossen. — Elin großangelegter Vortrag Raffaello Monterossos, Professor an der „Scuola di Paleografla Musicale” von Cremona, hat Dantes Verhältnis zur Musik an der Hand zahlreicher Zitate aus der „Divina Commedia” und Werken kleineren Formates erläutert und auf das Bestreben des Poetą Laureatus, die Geheimnisse der Beziehungen zwischen Musik und Dichtkunst zu ergründen, hingewiesen — ein Bestreben, dem seit jeher die Theoretiker aller Zeiten verfallen sind.

Ein anderer Vortrag, gehalten von Maestro Giulio Confalonieri, galt dem zweiten Hauptpunkt des diesjährigen Gesamtprogramms, der „Botschaft zweier Jungen”, das sind der Meister von Pesaro, Gioacchino Rossini, der seine Oper „L’Equivoco stravagante” („Das außerordentliche Mißverständnis”) mit 19 Jahren geschaffen hat, die bereits nach fünf Jahren nicht mehr auf den Spielplan kam und erst im Rahmen der Sieneser Musikwoche durch eine hinreißend beschwingte Aufführung mit dem Orchester der „Accademia Musicale Chigiana”, dem Chor der „Cantori Pisani” (Maestro Bruno Pizzi) und ausgezeichneten, echt Rossinischen Geist atmenden, agierenden und singenden Solisten unter der Leitung von Alberto Zedda zu neuem Leben erweckt worden ist.

Das Werk eines andern „Jungen” ist das Oratorium „La Strage degli Innocenti”, das Don Lorenzo Perosi als Fünfundzwanzigjähriger geschaffen hat und dessen Erstaufführung im Jahre 1900 in Mailand stattfand. Nur fünf Jahre lang schien dieser „Bethlehemitische Kindermord” auf den Programmen der Kirchen- und Konzertsäle auf, um sodann bis auf den heutigen Tag der Vergessenheit anheimzufallen. Hermann Scherchen hat das Werk des Meisters von Tortona, welcher zuerst Dirigent der Kapelle von San Marco in Venedig, später der Päpstlichen Kapelle von Rom war und 1956 gestorben ist, mit dem Chor und Orchester des „Maggio Musicale Fiorentino” im Verein mit dem Chormeister Adolfo Fanfani, unter der Mitwirkung bekannter und zum Teil hervorragender Solisten, in der imposanten Kirche von San Domenico in Siena zu einer glanzvollen Aufführung gebracht.

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