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Mutter bessert aus

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In meiner Erinnerung, dort wo sie in die Stunden der Kindheit übergeht, steht ein müder Morgen im späten Herbst, nebelig in seinem Anbruch und in seinem fahlen Frühschein wie unentschlossen, ob er ein Tag werden will. Mit feuchten Händen tastet er dahin und dorthin, wischt mit einem Wolkenschwamm über das Pflaster der Wege und löscht die Zeichen, die die Schritte der Menschen dahin geschrieben.

Er ist langsam gekommen, dieser Morgen, als täte es ihm leid, mich aus Träumen in mein Kinderwachsein zu tragen. Unbehaglich erscheint es mir, in den Tag zu müssen. Trägheit läßt mich die Decke höher ziehen, als könnte dies etwas an der Tatsache ändern, daß es auch für mich Pflichten gibt, die ernst genommen werden wollen, und Aufgaben...

Aufgaben. Da werde ich ganz wach. Ich überlege, ob auch alles getan ist, das der Schule gilt: Cäsar... Pragmatische Sanktion ... die linken Nebenflüsse der Donau ... Und mein Blick durchwandert das Zimmer, das ich mit Mutter teile, und das so klein ist, daß sich die Möbel rundum gleichsam an den Händen halten und nur den Zugang zur Tür freigeben.

Neben dem Ofen, in dem ein leichtes Feuer Flammenblumen aufblühen und verwelken läßt, sitzt meine Mutter. Sie hat sich die Petroleumlampe zurechtgerückt und sie mit einem Papier gegen mich hin abgeschirmt, denn ich darf ja noch einige Minuten schlafen, wie es die Pendeluhr verrät, die der Zeit den Takt schlägt.

Mutter hat eine Arbeit vorgenommen, in aller Frühe schon. Die Rechte hebt und senkt sich, und ein glitzernder Strich und ein dunkler Faden folgen ihr. “Mutter bessert etwas aus: meine neue Hose.

Siedendheiß, brennkalt zugleich überfällt mich diese Erkenntnis. Ich mache die Augen fest zu, als könnte ich damit alles aus der Welt schaffen, aber das Gewissen, das sich meldet, läßt sich so nicht abspeisen.

„Du hast sie zerrissen“, sagt es. Mein Herz schlägt bis in die Kehle. Der dumme Stacheldraht an Nachbarns Zaun, über den hinweg der Ball geflogen war ... Der dumme Ball... Dumm, dumm, dumm — finde ich alles, und das Wort paßt so recht zu mir und zum Pochen in meiner Brust.

Wir sind arm, wenn man die damaligen Maßstäbe einer Gesellschaftsklasse anlegt. Die kleine Witwenpension soll meiner Mutter auch noch Schulden zahlen helfen, die Vaters Krankheit und Tod über uns gebracht hatten. Und lernen soll ich auch. Es soll „etwas aus mir werden“, wie man so zu sagen pflegte, damals, als das Standesgemäße nicht unbedingt auch das Sinngemäße war. Oder hätte mich eine Offizierswitwe in die Lehre geben sollen? Es wäre gleichbedeutend mit einem Hinabsteigen gewesen, damals um 1912.

Mutter kämpfte mit dem Schicksal und dem täglichen Leben, und heute weiß ich,daß sie es für mich tat, nur für mich, und daß sie zurückgetreten war in den Schatten, selbstverständlich und ohne Geste.

Es reichte nicht. Nach der Decke strecken? Wie sinnlos die Wendung war! Wie konnte von „strecken“ die Rede sein! Zusammenkrümmen war richtiger. Und so war es auch. Und weil jeder Heller gewendet, jede Ausgabe überlegt und — wenn nur irgendwie durchführbar — vermieden werden mußte, ließ es sich nicht umgehen, daß ich zwar ordentlich, aber doch auch sehr bescheiden angezogen war. Sauber, aber doch auch geflickt, gefällig und doch ohne alle Pracht.

Die Hose, die Mutter auf dem Schoß liegen hat, ist eine Antwort. Sie enthält selbstlosen Verzicht auf so manches, das meine Mutter hätte haben dürfen, haben müssen. Sie birgt mindestens zwei von den bescheidenen acht Zigaretten, die Mutters einzige Sorgenbrecher sind, sie schließt in sich jede kleinste Freude oder Abwechslung in einem zermürbenden Alltag, sie ist Ergebnis und Triumph zugleich. Und wenn ein so prosaisches und ganz und gar der Romantik entbehrendes Ding wie eine Hose Ausdruck einer Liebe sein kann, sie ist es, wenn's auch lächerlich klingt: aus schönem, dunkelblauem Stoff, aus gutem Material und hübsch genäht. Ich hätte damit Eindruck auf meine Kameraden machen, nicht aber auch über Zäune steigen dürfen.

Der gestrige Sonntagnachmittag war schön und unverhältnismäßig warm gewesen. Er hatte ins Freie gelockt.

„Laß mich in die Auen gehen, Mama!“

„Nimm eine andere Hose!“

„Ich paß schon auf!“

„Komm nicht zu spät!“

„Ach nein, nur ein wenig Luft schnappen!“

„Leb wohl, mein Kind!“

„Adieu, Mama!“

Und dann waren plötzlich Freunde da und ein Fußball, Umhertollen und der Riß in der Hose, ein rechtwinkeliges Dreieck, das kein pythagoreischer Lehrsatz zu deuten vermochte. „Sieht man nicht“, sagten die Kameraden. Leichtsinn und Gedankenlosigkeit betäubten die Bedenken.

Jetzt sind sie wieder lebendig. — Ich schiele vorsichtig unter der Decke hervor. Die Uhr tickt und nickt dazu. Auf dem Spirituskocher steht der Teekessel, dünne Dampfspiralen schrauben sich empor, und er summt vor sich hin. Bald werde ich auf müssen...

Nun ja, etwas werde ich schon erzählen, das mein Vergehen kleiner macht: wie es geschah und daß ich eigentlich aufgepaßt habe, allein ein böser Zufall, weiß selber nicht wie, und das Unglück war fertig. Ein paar strenge Worte würde ich zu hören haben, wie das Leben doch schwer sei, und so. Und zuletzt ein Kuß und eine stürmische Umarmung — ein Niewieder und ein Versprechen meinerseits. Und alles wird wieder gut sein. Die Hose wird sich nichts anmerken lassen, denn Mutters Kunst wird den Schaden unsichtbar gemacht haben.

Mit solchen Gedanken und das Kommende vorwegnehmend und schon jetzt abschüttelnd, will ich mich aus der Hülle zu einem „guten Morgen, Mama!“ schälen, als mich etwas einhalten läßt: Ueber das Gesicht meiner Mutter streicht ein Schatten, etwas Ungekanntes verdüstert diese reinen, so geliebten Züge, und die Falten, die ertragenes Leid und zermürbende Sorge in die Glätte zu senken beginnen, Skizze eines gefurchten Antlitzes vorerst, werden tiefer. Und nun ist die Arbeit getan. Ueber die Gläser hinweg sehen die nußbraunen milden Augen, ganz dunkel geworden mit einemmal, nach mir hin, atemzuglang. Und dann hebt sich die Rechte — es ist wie ein Aufbäumen und ein Hadern mit allem und jedem darin — und schlägt zu, jäh, strafend. Die Hand trifft die Hose, die doch nichts dafür kann, mit ganzer Härte.

So habe ich meine Mutter noch nie gesehen. Es geht über den Verstand meiner Jahre. Ich erstarre vor Angst, und mein Herz hält inne. Und es holt erst wieder zum Schlage aus, als ich aus Mutters Auge eine stille Träne hervorglänzen sehe. Dunkel aber fühle ich, daß der Hieb nicht mir gegolten hat, der ich ja gar nicht in der Hose stecke, sondern dem Sein, das ein Loch in einem Kleidungsstück eine Rolle spielen läßt.

„Steh auf“, sagt Mutter zu mir. „Es wird Zeit für die Schule!“ Hell ist die Stimme und klar wie immer. Nichts schwingt mehr in ihr, das man als Auflehnung gegen das Schicksal hätte deuten dürfen.

Ueber die Hose wird kein Wort gesprochen. Sie ist ja auch wieder wie neu, und es müßten schon sehr scharfe Augen sein, die feine Spur zu bemerken, die ein Riß in den Stoff gezogen hatte.

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