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Mutter Teresa: Kalkutta ist überall
Kalkutta, 54 A.J.C, Bose-Boad, 6.00 Uhr früh. Morgenmesse in einem unscheinbaren, dreistöckigen Haus. Unten am Tor hat nur ein einfaches Schildchen aus Holz darauf hingewiesen, daß sie hier zu finden ist: „Mother Teresa, M.C.”.
Ich habe sie nicht gleich bemerkt, die kleine Gestalt, die beim Eingang der Kapelle im ersten Stock kauerte, den Rücken gekrümmt, die Hände im Gebet verschränkt. Sie nahm keine Notiz von uns, ebenso die rund 200 anwesenden Nonnen und Novizinnen in ihren weißen Saris. Wie sie zogen auch wir, eine Gruppe von jungen Journalisten aus 25 Ländern, die Schuhe aus und hockten uns auf den Boden.
Noch war es angenehm kühl hier drinnen an diesem Novembermorgen 1991, aber bald würde die unbarmherzige Sonne die Stadt auch um diese Jahreszeit in eine dampfende Hölle verwandeln. Durch die geöffneten Fenster drang der Lärm einer brodelnden, aus allen Nähten platzenden Metropole: ungeduldiges Gehupe und Geklingel veralteter, rußiger Fahrzeuge, Stimmengewirr, das typische Gekreische der Vögel ...
Hinweise wie „No photos during the mass” zeigten, daß hier, im Zentrum von Mutter Teresas Orden „Missionarinnen der Nächstenliebe” neugierige Besucheraugen nicht ungewöhnlich sind.
Hin und wieder gähnte eine der Schwestern verstohlen. Kein Wunder, verlangt ihnen doch ihre Aufgabe alles ab. Aber wer hierher kommt, der ist ohnehin nicht Verlockungen wie einem hohen Lohn oder der Aussicht auf soziales Prestige erlegen. Hier zu arbeiten heißt, schier Unfaßbares zu tun.
Daß Mutter Teresa nach der Messe doch ein bißchen Zeit für uns übrig hatte, war ungewöhnlieh. Es ist bekannt, daß der Umgang mit Zeitungsleuten für die Umtriebige nur Zeitverschwendung ist. Aber dann standen wir doch ein Weilchen oben auf der Veranda vor dem Gebets-räum, und sie re dete über ihre Arbeit.
Was sie da in ihrer gutturalen Stimme und dem in
Indien so ty- New York, 1997: Eine Begegnung der ungewöhr pischen liehen Art, Mutter Teresa una Prinzessin Diana schweren Akzent sagte, war eigentlich gar nichts Besonderes oder gekonnt Formuliertes, wie man es vielleicht von einer so bekannten Persönlichkeit und Nobelpreisträgerin (1979) erwarten würde.
Im Gegenteil. Sie sagte uns ganz einfache Dinge, wie ich das von ihr auch später öfter hörte: „Wer liebt, kann die Welt verändern”. Gott ist die Liebe, und diese Liebe äußert sich durch den Dipnst am
Nächsten. Zuneigung, Achtung und Würde jenen zu geben, die die schlimmste Erfahrung eines Menschen machen: Ungeliebt und unerwünscht zu sein-nach diesen Prinzipien lebt und arbeitet der Orden. Hier zu sein heißt, jenen zu dienen, die die Gesellschaft einfach ausgespien hat: Arme, Verhungernde, Kranke, Mißgebildete, Sterbende, Dahinvegetierende, Mißhandelte, Ausgesetzte, Einsame, Verkrüppelte, Unerwünschte, überlebende Abgetriebene...
Und immer noch sind viele (junge) Menschen auf der ganzen Welt bereit, ihr zu folgen und mit ihren Händen und Herzen die niedrigsten Dienste an ihrem Nächsten, den Ärmsten der Armen, zu verrichten.
Am Schluß verteilte Mutter Teresa ihre, wie sie schelmisch lächelnd sagte, „business cards”. Auf den gelben Kärtchen steht zu lesen: „The fruit of silence is prayer. The fruit of prayer ist faith. The fruit of faith ist love. The fruit of love is Service. The fruit of Service ist peace. - Mother Teresa.”
Unten im Hof wuschen Novizinnen Wäsche in kaltem Wasser, walkten sie mühselig auf dem nackten Steinboden. Als sie merkten, daß Mutter Teresa oben bei uns stand, ging ein Raunen durch die Gruppe und brauste zu einem unglaublichen Jubel auf, als sie ihnen zuwinkte -und dabei auch gleich die Gelegenheit nützte, davonzueilen ...
Es war schwer für uns, jetzt auch einfach zu gehen. Ein Teil der unbändigen Energie, des unbändigen Glaubens dieser begeisternden Frau schien immer noch da zu sein. Man stand da, wartete und versuchte zu begreifen, wer diese Mutter Teresa ist.
Wie hatte sie gesagt? „Kalkutta ist überall. Man muß es nur sehen ...”
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