Nach dem Unbekannten ...

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Schon im Juli hat Evelyne Polt-Heinzl den neuen Roman von Christoph Ransmayr gelesen. Die furche hält sich an die vom Verlag vorgegebene Sperrfrist (22. September) und eröffnet ihren Lesern daher erst jetzt, wie "Der fliegende Berg" der Rezensentin gefallen hat.

Vorangestellt ist dem Buch eine Art poetologische "Notiz am Rande". Der in Strophen gegliederte "Flattersatz - oder besser: der fliegende Satz - ist frei und gehört nicht allein den Dichtern", ist da zu lesen. Doch die innere Logik des ungewöhnlichen Druckbildes will sich trotz der Anspielung auf den "fliegenden Berg" nicht recht erschließen. Aber das ist das einzig Manierierte am neuen Roman Christoph Ransmayrs, der hier eine Nähe zu seinen Figuren findet, die man in früheren Büchern mitunter vermisst hat.

"Ich starb / 6840 Meter über dem Meeresspiegel / am vierten Mai im Jahr des Pferdes." So lautet der erste Satz und damit ist nicht nur der typische Ransmayr-Sound da, sondern auch das vertraute Ambiente: extreme, unwirtliche Landschaften, in den sich Menschen unter schwierigsten Bedingungen ihre Wege bahnen müssen. Bei aller Drastik der geschilderten Naturunbilden wirken die Szenerien bislang oft etwas kulissenhaft, das Wilde wurde vom sprachlichen Gleichmaß gezähmt und hinterlässt den Eindruck von etwas Ordentlichem, Sauberem.

Kulissenhafte Szenerien

In "Der fliegende Berg" wird alles ein Stück näher an den Leser herangerückt; Ransmayr erzählt die Geschichte von konkreten Menschen, und er gibt ihnen "Gesichter" im Sinne einer lebendigen psychischen Physiognomie. "Ich habe mich nie besonders für die Beschreibungen / von Gesichtern und Körpermerkmalen interessiert", lässt Ransmayr seinen Erzähler sagen, als er die erste Begegnung mit seiner Geliebten Nyema beschreibt, solche "erkennungsdienstlichen Muster" seien Sache der Chronisten und Buchhalter. Daran hält sich Ransmayr auch im neuen Buch, aber trotzdem geraten die Figuren hier plastisch.

Zwei Brüder

Eingebettet ist diese Liebesgeschichte in eine andere, nämlich die zwischen zwei Brüdern. Liam und der Erzähler, dessen Namen wir erst gegen Ende des Buches erfahren, als Missverständnisse und Eifersüchteleien keine Rolle mehr spielen und Liam den Bruder endlich bei seinem richtigen Namen nennen kann. Das Drama der beiden beginnt im Elternhaus; der Vater war ein fanatischer Kempe der irischen Unabhängigkeit, zumindest in der Phantasie, die er in der Tradition aller Familienpatriarchen auf dem Rücken der Familie auslebt. "Manöver" nennt er die regelmäßigen Gewaltmärsche in die irischen Berge - die Liam für die Wildnis begeistern und den um drei Jahre jüngeren Erzähler völlig überfordern. Auch zu Hause dient alles so ausschließlich dem irischen Freiheitskampf, dass die Mutter schließlich das Weite sucht. Die beiden Brüder machen trotzdem ihren Weg, Liam als Computertechniker, der Erzähler in der "Handelsschifffahrt" - bis beide aus ihren erfolgreichen Karrieren aussteigen. Wie immer ist Liam der erste. Er kehrt zurück in die irische Abgeschiedenheit, renoviert auf einer Insel einen alten Bauernhof, wird Farmer und überredet seinen Bruder zu ihm zu ziehen.

Und so setzt sich letztlich das Kindheitsverhältnis samt Abenteuerspielen nahtlos fort. Natürlich ist es Liam, der im Internet den noch unerforschten "fliegenden Berg" im östlichen Tibet entdeckt und es versteht, den Bruder in seine pubertäre Sehnsucht "nach dem Unbekannten, Unbetretenen, / von Spuren und Namen noch Unversehrten" hineinzuziehen.

Unmögliches möglich

Mit der Beharrlichkeit des Fanatikers bereitet Liam das Unternehmen vor und macht das Unmögliche möglich. Auf komplizierten Wegen gelangen sie in den politisch unsicheren, weitgehend abgeschotteten Osten Tibets. Mit einem Nomadenclan und seiner Yak-Herde wandern sie dem fliegenden Berg entgegen. Und hier kommt die Liebe des Erzählers zu Nyema der Bruderliebe und dem gemeinsamen Projekt in die Quere. Ihre Sicherheit und Ruhe, in der ein wenig das Klischee von der Überlegenheit der einfachen Naturmenschen mitschwingt, bieten dem Erzähler jenen Halt, den er seit seiner Kindheit offenbar vergeblich gesucht hat. Der auf zumeist unglückliche Liebesprojekte verwiesene homosexuelle Liam beobachtet die wachsende Nähe zwischen den Liebenden mit großer Skepsis, während der Erzähler zunehmend in eine Double-bind-Situation gerät: Bricht er mit dem Bruder auf, ist es ein Verrat an Nyema; bleibt er bei ihr, ist es Verrat an Liam. Kain und Abel werden eingespielt, aber auch das klassische Thema des "Verliegens", nur dass das anstehende Abenteuer eigentlich ein simpler Spleen ist. Aber auch der will gelebt sein, und so treten die Brüder das Abenteuer gemeinsam an - bei dem nicht der Erzähler, sondern Liam in einer Lawine den Tod findet, den er vielleicht auch gesucht hat. Dass Liam in 6800 Metern Seehöhe "unter Eis und Geröll / und zersplitterten Bäumen" begraben liegt, darf man allerdings bezweifeln, auch wenn man nicht - wie Ransmayr - über die Erfahrung des Extrembergsteigers verfügt.

Poetische Bilder

Ausgesuchte poetische Bilder sind eine Art Markenzeichen Ransmayrs und auch sie gewinnen hier an Tiefendimension. Wenn in Eamon's Bar an der irischen Küste die salzigen Schuhe der Gäste auf dem mit Sägemehl bestreuten Boden "Spuren wie von einem Kampf" hinterlassen, ist darin genauso eine kleine Welt eingefangen wie in der Szene der Billard spielenden Männer, die trotz des beginnenden Schneetreibens nicht aufhören können, weil der Tisch am nächsten Morgen mit dem chinesischen Wanderhändler für ein halbes Jahr wieder verschwunden sein wird.

In Ransmayrs erstem großen Erfolg "Die letzte Welt" (1988) war die Natur im Ovids Verbannungsort "lesbar" geworden als "Umschrift" seiner "Metamorphosen"; in "Der fliegende Berg" greift Ransmayr dieses Motiv wieder auf, und es gelingt hier müheloser und überzeugender. Es sind die Gebete, mit denen die Menschen Osttibets Steine und Fahnen beschreiben, auf dass der Wind und das Wasser sie forttrage bis ans Ende der Zeit. In dem Abschnitt, in dem Ransmayr die beiden Liebenden beim "Entschlüsseln" dieser Schriftzeugnisse und auch der fremden Begriffswelt des jeweiligen Partners zeigt, erhält sogar der "Flattersatz" eine innere Logik.

Der fliegende Berg

Roman von Christoph Ransmayr

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2006

359 Seiten, geb., e 20,50

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