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Nach zwei Attentaten

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Wer hätte es gedacht, daß diese Welt noch aufhorcht, wenn ein Attentat und ein Streik gemeldet werden? Jahrelang haben endlose Berichte über die Greuel eines vergangenen Systems sich wie ein entsetzlicher Strom von Tränen, Blut und Eiter über die Völker ergossen, sie zuerst tief erregt, dann ermüdet, schließlich abgestumpft und ihren Widerwillen hervorgerufen. Man will nichts mehr hören. Ja, man läßt es fast schon ohne Widerspruch geschehen, daß tolerante Mitarbeiter oder schmatzende Mitgenießer von einst heute gekränkt tun, die Glaubwürdigkeit unliebsamer Dinge bezweifeln, Beweise willkürlich umdeuten oder gleich zum munteren Gegenangriff übergehen. Die heutigen Herren der Politik haben es ihnen allerdings leicht gemacht. Sie haben neue, nicht minder schreckliche Greuel berghoch anhäufen lassen, ohne ernsthaft einzusdhrei- ten. Sie haben voreilig historische Schranken geöffnet, daß wilder Haß, blinde Rache und schamlose Habsucht an Wehr- und Schutzlosen sich austoben konnten. Als die Welt endlich die Wahrheit erkannte, war es zu spät. So kam es, daß den hunderttausenden Verschollenen der Hitlerzeit, deren Verbleib die Nadiforschungen der unglücklichen Familien nicht aufklären konnten, weil stumme Gräber nicht antworten, nun die Hunderttausende entgegengehalten werden, die auf der atemlosen Flucht aus der alten Heimat unterwegs verschwunden sind. Die Statistik stellt mit kalter Klarheit fest: soundso viele Millionen wohnten in jenen Landstrichen vor der Austreibung, so viele sind in den jetzigen Wohngebieten gezählt, die übrigen fehlen. Wo sind sie? Irgendwo verscharrt? Oder in unzugänglichen Lagern? Vielleicht mit vermißten Kriegsgefangenen zusammen? Wo bleibt das Völkerrecht? Wo das „Rote Kreuz“? Wo die gerühmte Humanität?

Seit langen Monaten zerrt der „kalte Krieg“ an den Nerven der geplagten Zeitgenossen. Ihre Widerstandskraft wird durch tägliche Alarmnachriohten auf harte Proben gestellt und schon gab es Tage, an denen es schien, als ob eine Angstpsychose hereinzubrechen begänne. So ist es nicht zu verwundern, wenn so manches Opfer der neuen Methoden moderner Politik und Diplomatie mit dem furchtbaren Gedanken spielt, daß doch ein Krieg — o Wort des Schreckens! — der letzte Ausweg einer heillos verworrenen Situation bleibe. Ausweg? Nein, unheimlicher Irrweg in neue ausweglose Sackgassen. Wenn aber scheinbar die Vernunft versagt, wenn die Wahrheit in Propaganda erstickt, wenn feierliche Versprechungen ohne Gewissensbisse ins Gegenteil verkehrt werden,

was für Möglichkeiten friedlich-schiedlicher und gerechter Lösung weisen sich dann noch?

Nicht nur in dem, was man heute Weltpolitik nennt, überall, wohin der suchende Blick fällt, trifft er Verfolgung, Rechtlosigkeit und Brutalität häufiger an als früher. Eine Kakophonie von Drohungen und Schmähungen erfüllt die Atmosphäre. Man ist versucht, die Ohren zu verstopfen und in die Stille der Einsamkeit zu fliehen, um vom Adel des Menschen wenigstens zu träumen. So breitet sich all mä lieh ein Pessimismus aus, der alles für_ möglich hält und dem anderen alles Üble zutraut. Wer seine geistigen Kräfte gesund erhalten hat, wird und muß diesem Pessimismus überall und jederzeit entgegenwirken; denn in seiner Stickluft wird Geist und Willen krank und gedeihen die Verlockungen der Gewalt. Schon vermehren sich die Anhänger der direkten Aktion in den heimgesuchten Ländern. Vielleicht — man klammert sich an diese Vermutung — wollen die Besten dieser Verirrten nichts anderes als unsichtbare Mauern sprengen, um wieder freier atmen zu können. Neben ihnen schleichen sich jedoch kriminell Veranlagte ein, die das Böse aus Lust tun. Mit ihnen finden Asoziale den Eingang in den Bereich der Politik und steigen sogar zu Einfluß auf. Wer könnte mit ihnen an Radikalismus wetteifern? Daß diese Drachensaat gerade im leidenschaftlichen Volke Garibaldis aufzugehen schien, ließ die Welt erschreckt auffahren.

Innere Zwiste und Sorge um die Zukunft de Vaterlandes verleiteten ab und zu Fanatiker und Ungeduldige, durch Gewalt die Zukunft herbeizuzwingen, die sie sich wünschten. Selten waren es verirrte Idealisten, häufiger Psychopathen. Darum kamen sie sich dabei so großartig vor. Bedenklich jeder einzelne Fall dieser bösen Art, schlimmer, wenn sie am fließenden Band produziert.

Solange die Sittlichkeit Gemeingut ist und die Verantwortung vor der unbestechlichen Gerechtigkeit des allwissenden Gottes mehr oder minder kräftig einem jeden vertraut ist, wird der zu verzweifeltem Tun Aufbrechende auf unsichtbare Hemmungen stoßen, ehe das Unwiderrufliche geschieht. Die allgemeine Sittlichkeit kann das Mysterium des Bösen in der Welt nicht wegräumen, nicht verhindern, daß Böses geschieht, es wird aber nicht zur gelobten Tat, sondern bleibt Sünde und Verbrechen. Klar tritt hier die Unersetzlich; keit der religiös fundierten Schule und Erziehung hervor. An selbsterlebten Fällen messen wir den Grad der sittlichen Auflockerung. Während der Mord an dem populären Volkstribunen von Ottakring, Franz Schuhmeier, noch allgemein, ohne Unterschied der Gesinnung, mißbilligt wurde und der unglückselige Täter für immer aus dem Blickfelde der Öffentlichkeit verschwand, wurde der Mann, der den Ministerpräsidenten Stürgkh, als er ahnungslos zu Tische saß, niederschoß, wenige Jahre danach als Listenführer ins Parlament der ersten Republik geholt. Ähnlich fanden sich Federn, die für den Meuchelmord an Engelbert Dollfuß mildestes Verständnis und Rechtfertigung hatten und kein Mitfühlen mit dem einsam und hilflos .sterbenden Opfer. Diese flinken Schreiber vergaßen sogar, daß die Mörder des Kanzlers dem Typus der „Feme“ ajagehörten, die in Deutschland — in März 1938 und nachher auch in Österreich — so viele ihrer Gegner „umlegte".

In der Hitze, des Kampfes mag manches scharfe Wort fällen, das nicht so bös gemeint ist, wie es klingt, es soll nicht zu strenge genommen sein. Anders ist es mit der Vorliebe für die stereotype Phraseologie unermüdlich beteuerter revolutionärer Gesinnung und des Klassenhasses. Sie stumpft allmählich den Sinn für die sittlichen Grenzen des Wollens und

Handelns ab und läßt sie im Ungewissen verschwimmen. Sie erzeugt Trugbilder unechten Heldentums, das im Grunde nur angewandte Gewalt ist, verbrämt mit schillernden Redensarten. Fast alle historischen Gewalttäter im Bereiche der Politik haben sich als große Revolutionäre ausgegeben. Ist das nicht Stoff zum Nachdenken?

Seit es Gewerkschaften gibt, fehlte es nicht an Versuchen, sie zu parteipolitischen Zwecken zu mißbrauchen. In Österreich wie anderwärts, ausgenommen die angelsächsischen Länder, die meist ein beneidenswertes Verständnis für die Verschiedenheit der Aufgabe der Einzelgebiete des gesellschaftlichen Lebens und ihrer Organisationen beweisen. Auch die neuen „Einheitsgewerkschaften“ werden nicht selten’ durch politische Umtriebe gestört, besonders dort, wo wichtige Kommandostellen mit Kommunisten besetzt sind wie in Italien. Was die Mehrheit des Volkes in freien Wahlen versagte, die Erreichung der Macht im Staate, sollen ihnen Kampfmittel erzwingen, die den Gewerkschaften lediglich zur Vertretung wirtschaftlicher und sozialer Interessen der Arbeiter und Angestellten anvertraut sind: immer wieder Einmischungen in nichtgewerkschaftliche Angelegenheiten, politische Streiks und Forderungsprogramme, Gelüste, anderen Ständen diktatorisch den Willen aufzunötigen.

Die Bedeutung der Gewerkschaften ist unbestritten und unbestreitbar. Niemand kann sich eine gute Ordnung des gesellschaftlichen Lebens unserer Zeit ohne gesunde Gewerkschaftsbewegung vorstellen. Sie, wie jede andere soziale Organisation, ruht auf der Freiheit der Mitgliedschaft und auf der klugen Selb t- bescheidung, die nicht über ihr Wirk- gebiet hinausgreift, djher auf diesem an gesehen und stark bleibt. Erfahrene Gewerkschaftler wissen, daß. jeder Verletzung dieser Grenzen Unruhe und Störungen im Teile, der sich übernimmt, und den Widerstand des Ganzen hervorruft, also zur Schwächung führt. Natürlich gilt dies für alle Standesorganisationen, nicht nur für die der Arbeiter und Angestellten. Im modernen Staat kann ein Stand über die anderen nur dann die Oberhand gewinnen und behaupten, wenn er die Methoden der Gewalt anwendet. Gewalt aber ruft früher oder später wieder Gewalt hervor. Darum war der Generalstreik in Italien nicht nur ein schwerer Fehler. Waren die Schüsse auf der Piazza di Montecitorio ein Verbrechen gegen einen gehaßten Mann, so war der Streik ein Attentat, ein Verbrechen gegen die Nation selbst und ihre Frei- he i t. ‘ . -

Die unruhige Zeit vor, während und nach dem zweiten Weltkriege hat Europa in eine tiefe Zerrüttung abgleiten lassen, so daß die Wiedererlangung der früheren Kraft und Zuversicht vieler Mühe und Geduld bedarf. Nicht bloß riesige Summen des Nationalvermögens und damit des Einkommens vieler Völker sind verlorengegangen. Auch unwägbare Werte, die das Leben der einzelnen und der Gewerkschaften in harmonischem Gange halten, sind schwächer und labiler geworden, mehr als vorher schon. Im fahlen Lichte drohender Gewitter, die dunkel an fernen und nahen Himmeln hängen, muß diese Generation ihren Weg über schwankenden Boden gehen und darf sich von den Dämonen — dies ist ihre Stunde — nicht vom Ziele abbringen lassen. Für die gute, gescheite und tief menschliche Art und Weise, wie es sich zu den beiden Attentaten verhielt, sei Italien gedankt, cs gab ein ermutigendes Beispiel.

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