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Nacht am See

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Lauter sangen die Geigen, die Gespräche wurden lebhafter, Freude und Frohsinn flammten auf und herrschten über die Gesellschaft, sprühend und lebendig, gleich dem funkelnden Licht der Kerzen, das vielfältig sich brechend den schweren roten Wein zu purpurner Glut entfachte.

Ich war nur für ein paar Augenblicke ins Freie getreten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und dann um so stärker die fröhliche Unbeschweftheit des Festes genießen zu können. Es war eine warme, vom Schlag der Nachtigallen erfüllte Sommernacht. Das Mondlicht überflutete in verschwenderisdier Fülle das sanft abfallende Hügelland, zu dessen Füßen der See lag, groß, glänzend und geheimnisvoll. 'Während meine Blicke auf seinem silbernen Spiegel haftenblieben, stieg aus ihm die Vergangenheit hervor. Der See lockte und rief und zog mich in seinen Bann wie eh und je: Ich vergaß Musik und Tanz und lief ihm entgegen, vorbei an den schlafenden weißen Häuserzeilen des burgenländi-schen Dorfes bis zum Ufer, wo ich einen Kahn löste und hinausfuhr durch den langen Schilfkanal in das freie Gewässer.

Dort hielt ich an und lauschte. Ein leiser Wind flüsterte im Schilf, die Stimmen der Vögel, fremd und doch seltsam vertraut, mischten sich mit dem eintönigen Knarren der Frösche, und gleichmäßig wie der Sekundenschlag der Ewigkeit klopften die Wellen an den Bootsrand. Es war wie damals — damals, als ich das erstemal am See war und die Geschichte meines Freundes Erwin begann.

Wir hatten Schule geschwänzt, um an den See zu fahren, waren den ganzen Tag durch Steppen, Wiesen und Sumpfland gewandert, hatten seltene Pflanzen bestimmt und Vögel beobachtet und waren trunken geworden von der Fülle des Erlebten und dem seltsamen Reiz der Landschaft. Mitten in der Ausgeglichenheit dieses Tages aber traf es uns wie ein Schlag, unerwartet und plötzlich: Beim Einbruch der Dämmerung erreichten wir ein Dorf und fanden vor dem geöffneten Fenster des ersten Hauses eine schweigende Menschenmenge, die den Worten eines Lautsprechers folgte: Kriegserklärung an Rußland! Die spanische Wand, die wir zwischen uns und die Welt geschoben hatten, gewebt aus unsern Träumen und dem Blau des Himmels und bemalt mit Vögeln, Blumen und bunten Schmetterlingen, zerriß jäh, und dahinter lag eine Wirklichkeit, deren Folgen wir noch gar nicht absehen, sondern nur ahnen konnten, und die so schwer auf uns lastete, daß wir im Weitergehen auf einmal spürten, wie müde wir waren.

Die Nacht verbrachten wir in einem Boot am See. Lange verharrten wir schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, bis plötzlich Erwin die Stille durchbrach: „Ich werde es doch tun!“ — „Was?“ — „Mich freiwillig melden, als Berufsoffizier.“ — „Ich dachte, du wolltest Arzt werden?“ Er schwieg eine Weile, während ich seine Zähne knirschen hörte und spürte, wie er die Fäuste ballte. Ich wußte, welchen Kampf er in seinem Innern ausfocht, ich wußte, daß es das Endgefecht eines langen, langen Ringens war, das mit den Ereignissen des Jahres 1938 begonnen hatte und ihn seither nie mehr zur Ruhe kommen ließ: Einer jener Familien entstammend, die ihr Kleinbürgertum durch das Bekenntnis zur großdeutschen Idee zu überwinden meinten, also von zu Hause im Sinne des Nationalsozialismus erzogen und ständig beeinflußt, war er unter Schulkameraden geraten, die sich ihrerseits, je nach Herkunft und Erziehung, als österreidier, Weltbürger oder bewußte Christen fühlten und daher dem Dritten Reich völlig ablehnend gegenüberstanden. Seiner Konstitution entsprechend, die sicherlich die Neigung verständlich machte, in bedenkenloser Anerkennung der Thesen vom gesunden Recht des Stärkeren, die überschüssigen Körperkräfte nicht zügeln zu müssen, wer er den elterlichen Einflüssen durchaus zugänglich. Auf der andern Seite aber machte auch der Gegensatz zwischen alter und junger Generation sein Recht in der Bereitschaft geltend, sieh die politische Einstellung der Mitschüler anzueignen. So schwankte er ständig hin und her zwischen der Laufbahn eines Revolutionärs oder eines Hitlerjungen, zwischen Schule und Daheim. Und dieses innere Ringen schien heute zunächst einmal irgendwie zu einem Ende gekommen zu sein.

„Ich werde nicht Arzt. Die Zeit erfordert etwas anderes von mir, etwas, das ihr alle nicht versteht und wovon ihr mich abhalten wolltet. Ihr mit eurem Gerede von Menschlichkeit und Freiheit und Widerstand, ihr wißt nichts von den Forderungen dieser Zeit, ihr wißt nicht, was es heißt: Volk im Aufbruch. Ihr seid dekadent — dekadent!“

Ich fühlte, daß die Bitterkeit, mit der er diese Worte aussprach, viel weniger uns persönlich als dem zermürbenden Kampf galt, den wir in ihm entfacht hatten, aber es hätte keinen Sinn gehabt, ihm jetzt zu erwidern — mit denselben Argumenten, die wir seit Jahren ins Treffen führten. Wir hatten die erste Runde in diesem Kampf verloren. —

Fremd lagen wir nebeneinander. In die Kluft, die zwischen uns aufgebrochen war, drang die Nacht wie der Keil in ein Holzscheit und machte sie weit und unüberbrückbar. Die Dunkelheit hüllte uns ein, so daß um uns nur mehr Ferne war und wir zum erstenmal wußten, was Einsamkeit bedeutet.

Und dieses Bewußtsein der Einsamkeit wurde groß und wuchs ins Unendliche, je stärker die Stimmen der Nacht auf uns eindrangen: der Ruf der Vögel, das Raunen des Schilfes und der Schlag der Wellen.

Als wir am nächsten Tag nach Hause fuhren, saß uns im Zug ein Hauptmann gegenüber: „Die Russen? Lächerlich. In drei Wochen sind wir mit ihnen fertig, in drei Wochen.“

Erwin setzte seinen Plan durch. Er rückte ein, während wir die letzten Klassen der Mittelschule besuchten, und zufällig schickte es sich so, daß er nach seiner Feuertaufe im Partisaneneinsatz am Balkan gerade dann für ein paar Tage auf Urlaub kam, als wir unsere Reifeprüfung ablegten. Mir war die Aufgabe zugeteilt worden, ihn zu der Maturafeier, die im Hause eines Schulkameraden stattfand, einzuladen und hinzugeleiten, um aueh vorher noch ein wenig mit ihm zu sprechen. Es fiel mir nicht leicht; ich wußte, was jetzt kommen würde: Wir würden am Höhepunkt des Festes aufstehen und auf den Untergang der Tyrannen trinken. Wir würden uns groß fühlen in diesem Augenblick, frei und erheben, als hätten w'ir die Freiheit gerade jetzt schon ergriffen oder zumindest etwas Entscheidendes für sie getan. Aber in der unnüchternen Begeisterung, die der überschäumenden Phantasie kleiner Gymnasiastenseelen entsprang, die gerne schon groß gewesen wären, würde doch bereits ein wenig von dem Ernst und der Entschlossenheil zu spüren sein, die wir für die Entscheidungen der nächsten Zeit brauchten. Wie würde Erwin das alles aufnehmen? „Ich weiß nicht, wie du jetzt von diesen Dingen denkst“, begann ich, „aber wir haben uns nicht geändert, wir sind eher noch erbittertere Feinde des Regimes geworden...“ Er hörte mir lange zu, ohne zu erwidern. Als es aber dann soweit war, als wir aufstanden, um auf die Freiheit zu trinken, erhob auch er sein Glas.

Vom Urlaub weg fuhr er nach Rußland, „Erinnerst du dich noch des Hauptmanns damals auf der Rückfahrt vom See?“ fragte er beim Abschied. „Drei Wochen, sagte der, „lächerlich, drei Wochen.“

Einige Monate später war Erwin tot. Wie man bei der Regelung seines Nachlasses erfuhr, hatte er an die zuständige Dienststelle ein Gesuch gerichtet, ihn von der Laufbahn eines Berufsoffiziers zurücktreten zu lassen, da er es zur Zeit nicht mit seinem Gewissen vereinen könne, deutscher Offizier zu werden. Daraufhin war er sofort zu einer andern Einheit auf einen vorgeschobenen Posten, vielleicht zu einem jener berüchtigten „Himmelfahrtskommandos“, versetzt worden, wo er kurz nach seinem Eintreffen schwer verwundet wurde. Schließlich erlag er auf dem Heimtransport im Lazarettzug seinen Verletzungen, Hatte ihm unsere Maturafeier wirklich so viel zu denken gegeben? Waren es unsere Reden auf die Freiheit oder das Gespräch mit mir gewesen, die ihn so umgestimmt hatten? Die zweite Runde, mit der der Kampf nun zu Ende gegangen war, hatten wir jedenfalls gewonnen —• aber um welchen Preisl

Als wir ihn an einem trüben Herbsttag zu Grabe trugen, war plötzlich der Tod in unser Dasein getreten, nicht der Tod, von dem wir wußten, daß er alte Leute oder irgendwelche Fremde holte, sondern der Tod, der unausweichlich jedem Leben ein Ende setzt, und von dem wir wohl gehört, aber an den wir im grenzenlosen Optimismus der Jugend nie geglaubt hatten. Dieser Tod ging' neben uns her, während wir langsam dem Sarge folgten. Wir fühlten seine Nähe in dem herben Geruch des welken Laubes und hörten seinen Schritt neben uns im Rascheln der Blätter am Boden. Irgendwer hielt eine Rede, dann sank der Sarg in die Erde. Das alles aber geschah wie ferne in einer anderen Welt, die für uns zusammengebrochen war und mit der uns nur mehr die drückende Frage verband, ob wir Erwins Tod verschuldet hatten.

Einige Tage später bekam ich Erwins Tagebuch in die Hand. An der Stelle, wo er in knappen, fast trotzigen Worten die Ereignisse am See aufgezeichnet hatte, war ein aus irgendeiner Feldbuchausgabe herausgerissenes Blatt mit einem Gedicht eingelegt, das „Abend am See“ hieß, und dessen letzte Strophe folgendermaßen lautete:

Fern ein Kahn zieht durch die Wellen einen breiten Silberstrich.

Wird auch er dereinst zerschellen, ein Verlorener wie ich?

Das war die Geschichte meines Freundes Erwin, die damals am See begann. Und warum saß ich nun hier in einem Boot im Schilf, davongelaufen von einer fröhlichen Gesellschaft? Um noch einmal jene Geschichte durchzuleben, die mit Einsamkeit und Nichtverstehen begann und mit dem Tode endete? Bloß um dieser Erinnerung willen? Oder hatten mich die Stimmen des Sees und der Nacht gerade jetzt gerufen und gelockt, heraus aus Freundeskreis und Lebensfreude, um mich nicht, vergessen zu lassen, daß die Melodie des Daseins Einsamkeit, Tod und Schuld hieß? Der Wind sang im Schilf dieses Lied, und die Wellen rauschten es — nur der Mond schwieg — ferne, kalt und unnahbar.

Oben am Waldesrand waren die erleuchteten Fenster zu sehen — sie feierten und tanzten immer noch —, und als ich dorthin zurückfuhr, zurück in die Freude und das Leben, zog mein Boot einen breiten ruhigen Silberstrich durch das glitzernde Gekräusel der Wellen.

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