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Nacht über Europa

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Gleich darauf, und, noch ehe die Schüsse aus den Maschinenpistolen loshämmern, geschieht etwas Rührendes: einer der vier stellt «ich plötzlich schützend, bewahrend vor den einarmigen Verletzten — es ist Merz von Quirnheim, der mit Stauffenberg die Akademie besucht hatte. Vergeblich der Versuch: ihn, den Besten, den Unentbehrlichsten, mit dem eigenen Körper zu decken. Die Maschinenpistolen tun ihr Werk. Die vier sind zusammengesunken. Jetzt aber betritt ein riesenhafter General — der Fahrer droben am Fenster meint ihn ihm den BdE., zu erkennen — mit der Gebärde des Siegers den Hof, schreitet die Reihe der zur Hinrichtung Kommandierten ab, und dort, wo eben noch die Worte von „unserem heiligen Deutschland“ verklungen sind, echot es von Heilrufen auf den geretteten Führer.

Drückend heiß waren die Stunden des 20. Juli gewesen, erst mit der Nacht senkte sich lindernde Kühle über den im Fieberschauer liegenden alten Kontinent. Im Süden der Ostfront waren deutsche Divisionen weiter zurückgedrängt worden. Von Kowel vordringende sowjetische Kräfte waren am Bug zum Stehen gebracht worden, nur vereinzelt standen russische Soldaten am Westufer des Njemen. In der Heeresgruppe Nord debattierten Stabsoffiziere noch zur späten Stunde den seltsamen Befehl Becks, den man dann, auf einen Wink Kielmanseggs aus dem Führerhauptquartier, doch nicht ausgeführt hatte. „Es wäre die Rettung gewesen“, sagt der Generalstabschef der Heeresgruppe Kinzl, „wir haben es ja wiederholt vorgeschlagen.“ Bei der Heeresgruppe Mitte aber erklärt Generalmajor Henning von Treskow seinem Freund Fabian von Schla-brenndorf, wie er in den frühen Morgenstunden in der Frontlinie den Tod suchen werde; er ist ein Mitverschworener und will so verhindern, daß unter der Folter weitere Namen seinem Mund entweichen.

Während all das geschieht, schlafen aber noch immer Millionen der Heimat einen ahnungslosen, ruhigen Schlaf. Zwar sind in den Abendstunden britische Verbände aufgestiegen, die sich, etwas nach Mitternacht, über Orte im Rheinisch-Westfälischen ihrer tödlichen Last entledigen, während in Friedrichshafen, Wetzlar und Leipzig Brände, die von amerikanischen Tagesangriffen verursacht wurden, slosenden Schein in verdunkelte Straßenschluchten werfen. Doch in Schlesien und Pommern und Oesterreich ist noch fast gar nichts geschehen, und auch in Bayern und Württemberg und anderen deutschen Ländern kennen unzählige Orte noch nicht das grausige Rauschen der tödlichen Pfeile, das Einstürzen der Kellermauern oder das Rot des Bombenstaubes.

Lautlingen etwa ist so ein Ort: Angeschmiegt an die Schwäbische Alp, in einer Mulde ausgebreitet und von dem Stauffen-bergschen Kastell gekrönt, ist es ruhig in die Nacht geglitten. Fast niemand hat hier den spätnächtlichen Haßausbruch Hitlers am Radio gehört, nur wenige die ersten Rundfunkmeldungen. Eine Magd etwa, die in der Stauffenbergscb.cn Küche davon erzählt... und am nächsten Morgen wird der Gärtner eine weißhaarige Dame, die noch nicht weiß, daß sie in selbiger Nacht zwei Söhne verloren hat, fragen, „welcher Stauffenberg“ es denn gewesen sein könne.

Seltsame Nacht, die als dunkles Band den Zwanzigsten mit dem Einundzwanzigsten vereint! Noch bei Einbruch der Dunkelheit bat man in Pari« Te^nViaM

Zimmer 405, an dem Kapitulationsangebot gearbeitet, das Montgomery überreicht werden soll. Noch um 9 Uhr 30 waren aus Berlin günstige Meldungen eingetroffen! Und etwa um diese Zeit saßen Feldmarschall von Kluge, sein Chef Blumentritt, der Militärbefehlshaber von Paris, Stülpnagl, und einige andere Herren bei Kerzenschimmer und einem Schweigen, das an ein Totenhaus erinnerte, in dem alten, in die Felsen gebauten Herzogssitz von La Roche-Guyon, um nach dem kargen Mahl noch einmal den leidenschaftlichen Disput um Deutschlands Schicksal aufzunehmen, in dem Stülpnagl und Hofacker den Marschall bestürmen, zu handeln, ob Hitler nun tot sei oder nicht, in der der Marschall lange zögert, schwankt, schließlich hochfährt, genau wie Fromm ärgerlich hochfährt, als er hört, daß man, ohne ihn zu fragen, bereits gehandelt habe, und schließlich mit seinem „Nein“ den Aufstand in Wirklichkeit besiegelt. Und während dieser Disput vonstatten geht, den von Kluge sehr viel menschlicher abschließt als der unterwürfige Riese aus der Bendlerstraße (zu Stülpnagl sagte von Kluge: „Ziehen Sie Zivil an und verbergen Sie sich!“), bricht englische Infanterie, brechen englische Panzer aus den Bereitstellungen vor Caen, um einen neuerlichen, entschlossenen Durchbruchsversuch zu machen, der nur mit letzten Reserven aufgehalten werden kann. Und während wieder diese Schlacht hin- und herwogt, sendet der SS-General Sepp Dietrich, der später seine Auszeichnungen als „Muster ohne Wert“ an Hitler retournieren wird, ein Ultimatum an Paris, in dem er droht, die Metropole an der Seine dem Heer zu entreißen und mit seinem Panzerkorps die Stadt zu nehmen, falls die Verhaftung • .der SS- .und;, SD-Funktionäre nicht rückgängig gemacht würde!

Seltsame Nacht, die als dunkles Band den Zwanzigsten und Einundzwanzigsten vereint! Eben erst sind die Schüsse in der Bendlerstraße verklungen, haben Feldwebel in einem nahen Friedhof fünf Gräber ausgehoben, haben von dem verängstigten Küster herbeigeholte Polizisten ihre Lampen auf die Toten gerichtet: „Drei Offiziere mit Generalsstreifen, ein Oberleutnant... ein älterer Mann im dunklen Anzug...“ und schon beginnt die Legendenbildung, die Umdich-tung der Wirklichkeit, das Einsetzen falscher Motive. Und es hat im Grunde bis heute nicht aufgehört. Immerhin erwies sich, daß im Sturme rasch wechselnder Meinungen nur eine Position leicht und gegen alle Seiten zu verteidigen war: die Position des Eidhalters, der in der feierlich eingegangenen Treuever-pflichturig niemals unsicher geworden ist.

Und hier könnte man sich wohl eine Gestalt antiker Tragik als Stauffenbergs Gegenspieler vorstellen, einen Mann, der das

Furchtbare des Konfliktes — Eid und Gehorsam, Kameradschaft und Schergendienst, Patriotismus und Eidverpflichtung — mit Größe zu tragen versteht. Es gibt Menschen, die Remer in dieser Rolle sehen wollen: offen, unerschütterlich im Eid, soldatisch und geradeheraus scheint er ihnen für eine ganze Gruppe von Offizieren beispielhaft, Offizieren, die, vom Marschallsrang abwärts, an der Niederwerfung beteiligt waren oder ausgeschlagen hatten, an dem Aufstand mitzuwirken.

Es erweist sich jedoch bald ratsam, jene höheren Offiziere auszuschalten, die, wie Kluge, Rundstedt, Manstein und vielleicht auch Fromm, nichts dagegen unternahmen, aber auch nicht direkt eingeschaltet werden wollten, ehe das „Grausige“ oder „Notwendige“ vollbracht war. Hier ging es ja offenbar weniger um die Treue zum Eid, als um das Odium des Eidbruches, von dem man sich freihalten wollte.

Auf der anderen Seite gilt es Männer wie Leutnant Hagen (im Zivilberuf: Referent im Propagandaministerium), der als treibende Kraft hinter Remer stand, ebenfalls auszunehmen; auch bei ihm kommt dem Eid keine entscheidende Rolle zu. Sobald er zur Ansicht gekojnärifn $ti&-fkt&:ts einen Staatsstreich gebe (und dazu hatte ihn eine reine Sinnestäuschung verführt, er hatte in einem vorbeifahrenden Auto Feldmarschall Brau-chitsch zu erkennen geglaubt!), gab es für ihn als Nationalsozialisten nie einen Zweifel, auf welcher Seite er zu stehen habe. Daraus soll kein Vorwurf gemacht werden; sehr sympathischerweise hat Hagen aus den Eindrücken jener Stunde nicht wie Remer eine Art Heimindustrie aufgebaut, er hat das Große nicht zerredet oder zerklatscht und es bei einer knappen Niederschrift bewenden lassen. Nichts gegen Hagen also, aber es steht fest, daß er in keinerlei tragischen Konflikt geraten war und ohne Eidverpflichtung ebenso gehandelt hätte.

Geht man auf diese Weise systematisch vor, so lichtet sich die Gruppe um Remer immer mehr. Soviel damals und später über den Eid gesprochen wurde, so stellt sich nun immer mehr heraus, daß die Taten um andere Achsen schwangen, und man fühlt sich geneigt, ungeduldig auszurufen: „War es also wenigstens bei Remer selbst das Entscheidende?“ Denn wenn dieser einzige Nachweis erbracht werden kann, wenn Remer wirklich unerschütterlich und soldatisch gehandelt hat, dann war er doch in seiner Art ein ebenbürtiger Gegenspieler, selbst wenn seine Rolle an sich untergeordnet war. (Schluß folgt.)

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