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„Nackt und brutal“

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Am 19. April dieses Jahres schrieb Dr. Donato Massimo Bartolomei an den italienischen Justizminister einen Brief: „Illustre Signor Minist™ — Ich bedaure, Ihnen hiermit meinen Rücktritt als Präsident der vierten Filmzensurkommission bekanntgeben zu müssen. Wenige Monate in meinem neuen Amt haben ausgereicht, mir die vollständige Sinnlosigkeit dieser Aufgabe vor Augen zu führen. Wie auch Sie sicherlich wissen werden, ist die Filmproduktion auf ein nie dagewesenes Niveau herabgesunken. Das Kino ist heute nichts anderes mehr als eine öffentliche Schule für Pornographie und Verbrechen mit Vorstellungen, die von Fall zu Fall vulgärer und akzentuierter in Haß und Qewalt werden.“ Außer Bartolomei sahen sich vier weitere Kömmissionspräsidenten der italienischen Filmzensur nicht länger in der Lage, ihr Amt ab Moralhüter der Leinwand verantwortungsvoll auszuüben, da sich die italienische Filmindustrie über Zelluloid-Konfektion seit Herbst vorigen Jahres in Akkordzulageri (1967: ?3 Sexfilme, 1968: 53) auf Nymphomanie, lesbische Liebe, Sadismus, Voyeurismus, Sodomie eingestellt hat.

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Am 19. April dieses Jahres schrieb Dr. Donato Massimo Bartolomei an den italienischen Justizminister einen Brief: „Illustre Signor Minist™ — Ich bedaure, Ihnen hiermit meinen Rücktritt als Präsident der vierten Filmzensurkommission bekanntgeben zu müssen. Wenige Monate in meinem neuen Amt haben ausgereicht, mir die vollständige Sinnlosigkeit dieser Aufgabe vor Augen zu führen. Wie auch Sie sicherlich wissen werden, ist die Filmproduktion auf ein nie dagewesenes Niveau herabgesunken. Das Kino ist heute nichts anderes mehr als eine öffentliche Schule für Pornographie und Verbrechen mit Vorstellungen, die von Fall zu Fall vulgärer und akzentuierter in Haß und Qewalt werden.“ Außer Bartolomei sahen sich vier weitere Kömmissionspräsidenten der italienischen Filmzensur nicht länger in der Lage, ihr Amt ab Moralhüter der Leinwand verantwortungsvoll auszuüben, da sich die italienische Filmindustrie über Zelluloid-Konfektion seit Herbst vorigen Jahres in Akkordzulageri (1967: ?3 Sexfilme, 1968: 53) auf Nymphomanie, lesbische Liebe, Sadismus, Voyeurismus, Sodomie eingestellt hat.

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Der Rücktritt der fünf (von acht) Kommissionapräsidenten war der Auftakt einer Rebellion, die über die Monate Mai, Juni Sprengstoff lud und kürzlich vorübergehend explodierte, als der Verband italienischer Filmautoren CAACI) Franco Zef firelli wegen Verleumdung der eigenen Zunft aus seinen Kreisen ausschloß. Der Hinauswurf des Oscarpreisträ-

gers Zeffirelli aus dem Verein italienischer Filmgrößen (Rosselini, Germi, Fellini, Visconti) spaltete die AACI, festigte Fehde und Fronten der Auseinandersetzung über das erotische Delirium der italienischen Filmindustrie, eine Polemik, die politische Kreise ebenso wie die Bürger der Straße aufgebracht hat, Solldaritäts-erklärungen mit Zeffirelli (Fellini, Visconti), Protestaustritte aus dem Verband (Germi u. a.) blitzten täglich neu auf.

Theatermann Franoo Zeffirelli, mit der Verfilmung von „Romeo und Julia“ und „Der .Wüeiajatastiieen Zähmung“ zu taternationalem Filmruhm gelangt, schlägt sich wie ein Kreuzritter für die reine Minne. Mahnend und mutig ging er gegen Kollegen vor, die „unter der Maske pseudointellektuellen Engagements vulgären Sex und Perversitäten auf die Leinwand schmuggelten“. „Sex ist für Frau und Mann gleichermaßen eine kostbare Angelegenheit. Es kann deshalb nicht zugesehen werden, wie diese Dinge im Dunkeln der Kinos in den Schmutz gezogen werden. Jungfräulichkeit ist einer der schönsten und poetischsten Werte, aber es scheint mir, daß wenige Filme zur Verteidigung dieser Tugend gedreht werden“, ereifert ich Zeffirelli. „Es ist nicht, weil ich prüde oder gegen die Pornographie bin. Italien hat den künstlerischen Film einst entdeckt, aber jetzt produziert es nur noch Sex.“

Mit seinem eigenen künstlerischen Schaffen rudert der 46jährige Filmästhet und Junggeselle dem großen Lasterstrom im Filmgeschäft kräftig entgegen. Zefirelli will das Leben des heiligen Franz von Assisi verfilmen, die lilienweiße Lebensgeschichte eines kleinen Jungen, der Lust und Luxus absagt und in der Unschuld der Natur, inmitten seiner Tiere, glücklich wird. Zeffirelli selbst fürchtet sich daher nicht vor dam „Volkswartbund“ qualifizierter Leute (Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller und Politiker), den er zu einer Art Natur-schuitzkommission für eine saubere Leinwand gründen möchte. Dieser Vorschlag hat ihn weiter von seinen Gegnern entfernt denn je. Pasolini: „Wenn es erwachsene Männer gibt, die sich dafür entscheiden, pornographische Filme zu drehen, wenn es überdies erwachsene Menschen gibt, die sich frei dazu entschließen, diese Filme anzusehen, dann ist es ein undemokratischer Akt, wenn sich Dritte erlauben, das zu verhindern.“ Alberto Moravia: „Diese Sexfilme tun uns gut, denn auf sexuellem Gebiet halben wir infantiles Niveau. Erst wenn wir die ganze Frage mit der Ratio lösen, dann sind wir erwachsen.“

Nun zu der Frage der Filmzensur. So wie sie jetzt in Italien funktioniert, kommt sie den Kontrahenten einmütig unnütz, schädlich und unwirksam vor, weil sie kein juristisch faßbares Urteil ihrer Filmauslese durchsetzen kann. Überdies hat jeder Kinogänger die Möglichkeit, Anzeige gegen einen Film zu erstatten, der ihm nicht paßt. Schädlich scheint die offizielle Filmkontrolle, weil ihr „wertvoll“ einen Film vor der Sequestrierung nicht bewahrt, anderseits spekulierenden Pornoproduzenten ein wertvolles Alibi ausstellt Das Flußbett für den Goldstrom der Leinwandpornagraphie hat in der Halbinsel „Belle du jour“ gegraben. Keine italienische Verleihfiiima hatte sich zunächst an diesem Streifen die

Finger verbrennen wollen. Als die junge Donna Maria Cicogna 50 Millionen für den Vertrieb in Italien riskierte, schüttelten alte Hasen in der europäischen Filmmetropole über diesen Leichtsinn einer Anfängerin nur den Kopf.

Mit frauliebem Instinkt hatte die venezianische Aristokratin indes, Italiens erste und einzige Filmpro-duzentin, den neuen Verkaufsschlager gewittert. Die Sexwelle ergoß sich. Alte Schleusen hielten nicht mehr dicht. Schranken von Anstand, Hemmungen und katholischer Zucht wurden mitgerissen in den Strudel. Zensurtitel „für Jugendliche unter vierzehn nicht geeignet“ trieben nur noch steuerlos mit. Die Ohnmacht bekennt Professor Lucei Chiarrisi, seit sieben Jahren Mitglied einer Filmzensur-koimmission: „In unseren Urteilen müssen wir auch der Wandlung der Gesellschaft und ihrer Sitten Rechnung tragen. Auf der anderen Seite müssen wir auch die Sorgen der Filmindustrie bedenken. Um ihre Strukturen zu erhalten, hat sie 250 Filme jährlich zu produzieren.“ Das Wasser also läßt sich nicht abgraben, auch wenn es vergiftet ist. Rom, das neue Hollywood, ist in diesen sexhohen Zeiten zu einem Freihafen für den internationalen Handel billiger Zelluloid-Erotik geworden. Täglich reisen neue Filmverleiher aus aller Welt an. Ein Verleiher aus Ceylon kaufte kürzlich ungesehen 30 Filme „tutto sesso“, die in Thailand, Singapore und Formosa vertrieben werden. Die Amerikaner kaufen in Rom das Salz für die Happy-End-Süßen Hollywoods in großem Stil ein: italienische Sexfilme, die den Kinsey-Report hemmungslos und sehr blumig variieren. Die pornographische Inflation hat die Preise für die Sexfilme erheblich gedrückt. Nur noch die Menge bringt den Produzenten Gewinne. Über dieses Massengeschäft suchen sich 70 neue Regisseure, die seit 1965 an der Fiknibörse aufgetaucht sind, ihren Weg nach oben. Fernando de Leo,

Autor von „Brucia ragazzo, brucia“ und „Amarsi male“: „Der erste Streifen hat mich 21 Arbeitstage, 12.000 Meter Film gekostet und hat 49 Millionen Lire eingebracht. Der zweite: 70 Millionen. Wenn man ein klares Konzept hat, ist ein solcher Sexfilm so schnell gedreht wie eine Roman-scbnulze geschrieben.“ „Nicht wir sind schuld. Der Film ist nur ein Spiegel der Gesellschaft. Und diese neuen sexuellen Beziehungen, die Homosexualität eingeschlossen, sind charakteristisch für die neuen Generationen. Das sind Sozialphäno-mene. Der Film hat die Pflicht, sie zu registrieren“, sagt Bino Cicogna, Bruder und Partner von Donna Maria. Hinter den Kulissen, in den privaten Räumen des Filmgewerbes, in den Luxusvillen von Regisseuren und Produzenten, sieht es in der Tat so aus, als Ob Italiens gesunde Moral, als ob Ehre, Würde und Anstand dahin seien, und sie alle nur noch — vor Jahren noch von der Geschichte Maria Gorettis bewegt, der 14jährigen, die ihre Keuschheit mit ihrem Leben verteidigte — im alttestamentarischen Sodom lebten. Unbeirrt indes postuliert Zeffireüli: „Italien ist ein sexuell noch ganz ge-

sundes Land. Die Zuschauer sind auf dieses Spektakel des perversen Sexfiebers nicht vorbereitet.“ Ekel oder ein Trauma wird sie für immer aus dem Kino treiben, und „wenn sie erst einmal geflüchtet sind, wird kein künstlerischer Film sie mehr, zurückholen“. Kreuzritter Zeffirelli mobilisiert die Massen, geht mit seinem Puritaniamus auf die Straße: „Nicht umsonst ist Italien bis heute das Land mit der kleinsten Statistik an Sexualverbrechen.“

Roms Filmplakate bleiben vorerst noch Manifest eines Triumphzüges, zu dem 70 neue Sexfilme für die neue Saison Anlauf nehmen. Die „magi-stratura“ hält sich für diesen Ansturm im Training. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres zog sie bereits 12 Filme ein, nur fünf weniger, als sie in sechs Jahren, zwischen 1960 und 1966, beschlagnahmt hatte. „In einem Jahr ist alles vorbei“, prophezeien römische Filmkenner. „Die italienische Flimmerindustrie hat doch immer nur von diesen Stoßgeschäften gelebt. Zuerst waren es die mythologischen Kolossalfilme: Ben Hur, Cleopatra, dann die blutigen Western, und jetzt ist es die Sexwelle.“

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