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Nächtliche Stimmen

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Eugen blieb fast die ganze Nacht auf, während das Haus ringsum um jenen reichen Raum in Stille und Schlaf versank. Anfangs bewegte er sich dort ganz so leise wie einer, den ein zaubrischer Traum umfangen hält; er getraute sich kaum zu atmen aus Angst, er könne den Bann brechen, und die ganze Zeit schienen die Stimmen der lebenden Bücher ringsum zu ihm zu sprechen und so zu sagen: .Nun ist es Nacht und Stille und Schlafzeit auf Erden, die allfrohlockende Zeit der Jugend und des Alleinseins und die Zeit des stolzen Zuwachses für deinen Geist. Nun nimm uns, plündre uns und nimm uns, denn heut nacht bist du allein lebendig auf der Welt, während alle Schläfer schlafen. Unsterbliche Kunde wird heute Nacht dein sein, die Geheimnisse einer immerdardauernden und sieghaften Weisheit. Der ganze hehre Hort der Erde steht gedrängt auf diesen gedrängten Gestellen und spricht zu dir und ist dein. Du bist der reichste Mann auf Erden, wenn du uns nehmen, bloß nehmen, willst. Wir haben, lieber Freund, so lang auf dich gewartet, und heute Nacht ist die Welt dein und wird auf immer dein sein, wenn du uns bloß nehmen, bloß nehmen, bloß nehmen willst.“

Und wie ein Freudenstrunkner plünderte er die halbe Nacht hindurch den lebendigen Hort auf diesen Gestellen ...

Sie waren alle da — alles, vom donnernden Äschylus bis zur süßen, kleinen Stimme des vollendeten Sängers Flerrick, vom großmächtigen Homer bis zum geschliffnen, zugespitzten Catull, vom bissig-schroffgelaunten Horaz, vom üppigen vulgär- und süßsingenden Geoffrey Chaucer, vom großen, bronzenen Glok-kenton, dem vollen, gellen Klang des John Dryden bis zu den Goldmassen, dem drangvoll eingeheimsten Reichtum, der heimsuchenden Feenlandherbstlich-keit des John Keats.

Sie waren alle da — ein jeder stand in seinem Gefach auf den lebendigen Gestellen, und zunächst fiel Eugen räuberisch über sie her, er plünderte von ihren goldnen Blättern, er benahm sich ganz wie einer, der einen begrabnen, unschätzbaren Hort aufgefunden hat, sich zunächst benimmt: er kann im Freudentaumel der Entdeckung nur mit beiden Händen hineinlangen', ganze Händevoll schöpfen, das massige Gold verschütten und in goldnem Gebröckel durch seine spreizfingrigen Hände rieseln lassen. Oder aber: er benahm sich ganz, wie sich einer benimmt, der einen verwunschenen Quell altersloser Jugend, einen Springborn immerlebendiger Unsterblichkeit entdeckt hat: — er trinkt und spürt mit jedem Trunk bereichert die ungeheure Herrlichkeitsfülle der Erde, die alterslosen Feuer der magischen Erd-jugend.

Dann aber, später in der Nacht, schlich ihm ein andres Gefühl ins Herz, und die lebendigen Bücher redeten in einem anderen Ton zu ihm. Von diesen großen Zungen des Lebens, der Macht und der sichaufschwingenden Unsterblichkeit war nun die volltönige Überzeugung ihres überwältigenden, allsieghaften Sanges gegangen. Die große, tönende Zunge der Freude sprach nun die Sprache einer stillen, unendlichen Verzweiflung, vertraute

In den nächsten Tagen transportierten wir mit einem geliehenen Karren viele Verwundete aus der Stadt in unser Haus. Meine Übermüdung war unbeschreiblich. Wie ich später erfuhr, war daran nicht nur der Hunger, die Hitze und die Arbeit schuld, sondern vor allem der Einfluß der durch die Atome vergifteten Atmosphäre im Gebiete der zerstörten Stadt.

Nach einigen Tagen war der Himmel über der Stadt des Nachts nicht mehr rot. Aber dafür wurde am Abend im Umkreis um die verschwundene Stadt überall die Leichenfeuer sichtbar, besonders auf den nahen Hügeln. An Särge war nicht zu denken bei der Menge der Opfer.

Das sind einige Erinnerungen an die Atombombe auf Hiroshima, wie ich sie erlebte. Möge Gott, der allmächtige Schöpfer, der heutigen Menschheit helfen, seine Werke in einer Absicht nur zum Wohle der Menschen und nicht zu ihrem Unglück und Verderben zu gebrauchen. ihm die Legende von einer unvermeidlichen Niederlage, von einem untilgbaren Verhängnis an.

Von diesen hehren, mit Prachtbänden vollgestellten Bücherborden schienen ihm nun in der lebendig regsamen Stille des Raumes die großen Stimmen der Ewigkeit, die Zungen der mächtigen, der toten und vergangnen Dichter zu sprechen. Aber in dieser lebendigen Stille, in der Weite und Ruhe des Schlafgeistes, der das große Haus erfüllte, aus der großen, überwältigenden Stille dieses stolzmächtigen, unerschütterlich gesicherten und behaupteten Wohnens im Wohlstand schienen selbst die Stimmen dieser mächtigen, der toten und vergangnen Dichter irgendwie einsam, klein, verloren und kläglich zu klingen. Jeder stand da in seinem kleinen Gefach auf den Brettern — all der Genius, der Reichtum und der gesammelte Hort eines Dichterlebens hatte da einen Fußbreit Platz, hatte da den Raum, den sechs kleine, dichtgedrängte, schönausgestattete Bände einnehmen — und alle die großen Dichter der Erde waren da, ungelesen, nie aufgeschlagen und vergessen, und waren auf irgendeine furchtbare Weise zu stummen, kleinen Wahrzeichen für eines reichen Mannes Macht geworden, für jene Macht des Wohlstands, die sich alles zu besitzen, alles zu nehmen und über alles zu triumphieren vermißt, sogar über die Macht und den Genius des machtvollsten Dichters, den man einfach auf einen schmalen Fußbreit Bücherbrett stellt, nie aufschlägt und vergißt, aber doch besitzt.

Und so erlebte es Eugen zum erstens mal in seinem Leben, daß ihm selbst diei Stimmen der mächtigen Dichter verloren, klein und kläglich geschlagen vorkamen Ihre großen Stimmen, die im ohnehin schon brennenden Herzen der Jugend noch das Feuer triumphanter Magie entn facht hatten, hatten seinen Geist auf den Schwingen des rauschenden, unbesiegt baren Glaubens gehoben, keine Macht auf Erden käme der Macht der Dichtung, keine Unsterblichkeit der Unsterblichkeit des Dichterlebens und des Dichterruhms gleich, keine Herrlichkeit und Kraft könne der Dichtung Herrlichkeit und Kraft erreichen. Und diese großen Stimmen redeten nun zu ihm und sprachen das stumme und kleinlaute und einsame Urteil der Unterlegenheit aus:

„Kind, Kind“, sagten sie zu ihm, „sieh] uns an und bedenke: was soll es dir nützen, an den Wurzeln der allverschlingenden Nacht zu zehren und Herrlichkeit zu begehren? Fressen denn nicht die Ratten des Todes und des Alters und der dunklen Vergessenheit ebenso an den Wurzeln des Schlafs, und kannst du uns sagen, wo nun ein Mensch begraben liegt, dessen Substanz sie nicht verzehrten? O Kind, o du, der du auf immer in des Lebens altem, dunklem Haus allein sein wirst, auf immer auf den schnöden Wandelstraßen der Nacht allein streunen wirst, auf immer im alten Haus des Le-. bens auf das Schwingen und Kreischen der Türen in den Angeln lauschen wirst, auf immer auf den Augenlidern der Nacht nachsinnen und im weiten Herzen von Schlaf und Stille und Dunkel dich grü belnd ergehn und sich so verzehren wirst, o du — was begehrst du denn? Armes Kind, du Sohn einer schrifttumskundigen Rasse, du namenloses Atom der namenlosen Wildnis, wie konntest du dich nur von unserer vermeintlichen Herrlichkeit betören lassen? Welche Macht gibt es auf Erden, auf den Meeren oder im Him-i mel, welche Macht hast du in dir selbst, du Sohn von 'Vätern, die ihr Sein nicht aussagen konnten, welche Macht gibt es denn, die dir eine Zunge liehe, auszusagen, was deine mit Stummheit geschla genen Brüder nicht aussagen können, einen Rahmen zu zimmern, eine Beschaffenheit zu finden, eine magische und ewige Form zu schöpfen aus der Dschungel der großen, unaussäglichen Wildnis, aus der du stammst, der du zugehörst, ein namenloses und unaussägliches Atom? Was kannst du denn zu leisten hoffen, du armes, namenloses Kind, du Möchtegern-Chronist des ungeschichtlichen Morasts der dunklen Wildnis Amerika, wenn wir, die wir die Kinder von hundert golden bewahrten Jahrhunderten waren und die Erben all der reichen Sammelhorte der Überlieferung, wirklich so wenig leisten konnten, und wenn es nun so weit mit uns gekommen ist? Welcherlei Nutzen hoffst du zu ziehen, welchen Lohn könntest du erringen, der dich für die Ängste, den Hunger und die verzweifelte Müh deines Daseins bezahlte? Bestenfalls wirst du nur selten und nur dann und wann einmal auf deinem blinden Hungerweg in die Dschungeltiefen ein leuchtendes Wort pflücken — einen blitzhaften Augenblick aus Anmut und Einfühlung gestalten —, vielleicht ein halbgehörtes nachflüstern können in der großen, nicht auszusprechenden Sprache, nach der du suchst — vielleicht auf einen Augenblick den Ruhm schmek-ken, auf ein kurzes Stündchen der vermeintlichen Herrlichkeit teilhaftig sein, nach der dich dürstet. Für bloß einen Augenblick wirst du, geradeso, wie es andre Männer taten, den Löwen spielen, wirst du des älteren Löwen Blut schmek-ken, wird dich für einen Nu nur der Siegesjubel, die Freude über seine Niederlage durchfahren ... und dann wirst du, ganz wie er, dem nächsten Löwen anheimfallen, die Wildnis wird sidi wieder erheben, um dich zu verschlingen, und da wird denn, eh es noch recht begann, das kleine Herrlichkeitsstündchen, nach dem du lechzt und lüstest, vergangen sein, die Myriadenhorde aus den tausend Köterrassen wird fauchend und fluchend, lügend und höhnend und hämisch aufstehn, um dir den Garaus zu machenj mit all dem Haß ihrer Kötergehässigkeit und ihrem Ekel vor sich selbst wird sie aufstehn, um dich, ihren preisgekrönten Löwen von gestern, in die namen- und ehrlose Vergessenheit zurückzuschaudern, wo du dann liegen wirst, ertrunken im Spott und Hohn, mit dem der alte Verächtlichmacher in seinem Stolz dich ungeheuer überhäuft. Und so wird dein kurzlebiges Leben bald zu Ende sein, deine Jugenfl, die doch grad erst begann, wirst du verbraucht haben, und all dein hungriges, qualvolles Bemühn wird in Grund und Boden verspottet werden von denselben köterhaften Narren, die es zuvor priesen, vergessen werden von denselben Lumpen, die ihm zuvor Ruhm zuerkannte. Dies also ist der selten eintretende Glücksfall, das“ kurze Aufstrahlen des Ruhms, nach dem du streben magst.. i und dies also ist das ungeheure Vergessensein im Versagen, im Elend, in der Unehre, die dem folgen wird. Solltest du aber durch einen wunderlichen Zufall diesem Los entgehen und nicht erschlagen, verschlungen, ertränkt und vergessen in den rohen Sdiwarmschatten der Dschungelzeit liegen —, welch größere Herrlichkeit gibt es dann, die du erlangen könntest? Eine Herrlichkeit wie die unsre wohl... nun, sieh uns an und erkenne, wie weit es mit uns gekommen ist. Im reichen Schrein in eines reichen Mannes Buchgemach vergessen stehn ... ein Anteil seines trägen Wohlstands sein ... ein Zeichen seines anmaßenden Besitzens ... und sich erleben müssen, wie es selbst die Erde muß ..- -. wie es die Hügel, diese träumenden, wie es die Wälder, diese heimgesuchten, müssen, wie es der große Strom und dieser mondumwobne Berg hier muß, auf dem sein Haus steht... sich vor ihm beugen müssen ... gekauftes Eigentum, vergessen, dennoch hörig dastehn ... Wir, die größten Dichter, die die Erde je begingen, wir, die so wie du den Glorien einen großen Traumbau bauten ... stehn da als knechtiger Tribut zu eines reichen Mannes Ruhm. Ja du, selbst du, du armes nacktes Kind, kannst diesen Rang erreichen... es mag geschehen, daß du es dahinbringst, hier in der Grabesgruft zu liegen, gekauft und trag zu stehen mitten unter vergeßnen, ungeheuren Sammelschätzen im anmaßenden Besitzen eines reichen Manns und letzten Ends zu wissen, daß all die Herrlichkeit, der Genius und der Zauber eines Dichterdaseins gedruckt in sechs Prachtbänden vergessen, gekauft und ungelesen herumstehn mögen .. geschlagen von der einzigen Macht im Leben, die immer dauert und auf immerdar triumphieren wird, der allverzehrenden Tyrannei des Wohlstands, der aus großen Dichtern Sklaven macht... der uns zu schnöden Dienern des Ruhms und des Reichtums erniedrigt... zu ungebrauchten, leeren Wesenheiten auf dem Gestell eines reichen Manns.“

So sprach jener große Schatz un-gelesener, gekaufter und vergeßner Bücher, die einsam, klein und für Geld erworben auf dem Gestell eines reichen Manns standen, in den stillen Wachestunden der Nacht zu Eugen.

Gegen Morgen, als er, ein großes Buch auf den Knien aufgeschlagen, dasaß, eingedenk jener toten, vergeßnen, stilllebenden Stimmen, da drehte er in Gedanken die Seiten herum, und plötzlich rückten die verschwommenen Lettern auf einer gerade aufgeschlagnen Seite leserlich in seinen Blick. Und was die Worte auf dieser aufgeschlagnen Seite sagten, war dies:

Da sprach der Jüngling zu ihm: ,Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf; was fehlet mir noch?'

Jesus sprach zu ihm: .Willst du voll, kommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!'

Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von ihm, denn er hatte viele Güter.“

Aus dem Buch .Von Zeit und Strom“, erschienen Rowohlt-Verlag, Berlin.

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