Nazi-Geiseln: Die Judenräte

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Doron Rabinovici gelang eine überfällige Ehrenrettung.

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Doron Rabinovici gelang eine überfällige Ehrenrettung.

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Die Judenräte, die Mitwirkung von Juden an ihrer eigenen Vernichtung, wird seit langem diskutiert. Doron Rabinovici lenkt nun den Blick auf Wien. Hier entstand unter Adolf Eichmann das "Sonderkommando des SD-Referates II-112" mit dem euphemistischen Namen "Zentralstelle für die jüdische Auswanderung". Wiens Israelitische Kultusgemeinde wurde zum Prototyp der späteren Judenräte. Es ist aber falsch, sie als "jüdische Führung" zu sehen, weil sie über keinerlei eigenständige Macht verfügte.

In der Donaumetropole waren wie kaum irgendwo sonst die Verbrechen an den Juden öffentliche Ereignisse, die in den Zeitungen jubelnd vermeldet wurden. Öffentlich geschahen in Wien die Raubzüge, öffentlich die Verächtlichmachungen, Demütigungen und Prügelorgien. Der bekannte Historiker Walter Grab berichtete kürzlich in seinen Erinnerungen über die Wiener Jahre, wie im Juni 1938 zufällig ausgewählte jüdische Passanten - darunter er selbst - gezwungen wurden, den Kot des SA-Pöbels mit bloßen Händen zu beseitigen. Auch die Pogrome im November 1938 mit ihren Morden, Brandlegungen und Vergewaltigungen hatten hier ein besonders dankbares Publikum. Die Ausschreitungen und Raubzüge, die bisher in Deutschland unvorstellbar gewesen waren und nun das Bild des nazistischen Wien bestimmen sollten, setzten bereits in der Nacht vor dem deutschen Einmarsch ein. Das Klima dafür war bereits vorhanden.

Ein bemerkenswertes Ergebnis der Untersuchung, mit der Rabinovici den Weg zum Judenrat am Beispiel Wien beschreibt: Der im vorauseilenden Gehorsam an den Tag gelegte Arbeitseifer, die Schnelligkeit und Pedanterie, womit im Wien des Jahres 1938 antijüdische Maßnahmen, Erlässe und Gesetze beschlossen und ausgeführt wurden, führen die sprichwörtliche Schlampigkeit und Langsamkeit der Wiener Bürokratie ad absurdum.

Nicht dass Opfer zu Tätern werden konnten, sondern dass Opfer nach 1945 zum Teil strenger als die Täter beurteilt wurden und so weiterhin Opfer blieben, ist der eigentliche Skandal. Das diabolische Täuschungsmanöver zielte ja gerade darauf ab, dass nicht die SS oder Gestapo, sondern jüdische Funktionäre die diskriminierenden Gesetze verkünden und vollziehen sollten, um letztlich die Vernichtung zu ermöglichen. Damit wurde die jüdische Gemeinde gezwungenermaßen zum Werkzeug der Nazis, zum "Agenten der eigenen Vernichtung", wie es Dan Diner einmal ausdrückte, die Judenräte waren Geiseln der Nazis.

Was die scheinbare Mittäterschaft von Juden an den Vernichtungsprogrammen betrifft, lässt Rabinovici nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass die "Kooperation" der jüdischen Funktionäre auf keinen Fall mit Kollaboration gleichzusetzen ist. Gewiss, räumt auch er ein, haben einzelne Juden, darunter auch jüdische Funktionäre, Juden verraten, sind tödliche Kompromisse eingegangen. Aber nichtjüdische Kollaborateure in besetzten Ländern beteiligten sich freiwillig, aus opportunistischen oder ideologischen Gründen an den Verbrechen. Die Judenräte aber wollten nie den Zielen der Nazis dienen, sondern glaubten, nur durch Kooperation der Vernichtung entgegenwirken zu können. Sie wurden durch Lügen, Täuschungen und kollektive Strafandrohung zur Mitarbeit gezwungen. Sie vermochten keine alternative Strategie durchzusetzen. Wollten die jüdischen Funktionäre so viele Juden wie möglich retten, mussten sie auf die "Vereinbarungen" und Denkvorgaben der Nazis eingehen, deshalb gingen sie den Tätern in die Falle, deren einzige Absicht es war, so viele Juden wie möglich zu deportieren. Die meisten jüdischen Funktionäre, darin zeigt sich trotz zeitweiliger "Privilegien" ihre grundlegende Ohnmacht, wurden letztlich ermordet oder begingen Selbstmord.

Die jüdische Verwaltung unter Nazi-Kontrolle verfügte über keine eigenständige Macht oder selbstgewählte Führer, sondern bloß über von außen bestellte Funktionäre.Verfolgt, getrennt vom Rest der Bevölkerung, ghettoisiert, ohne Hilfe von außen, blieb nur die "Zusammenarbeit" mit dem Feind. Nur in Verhandlungen mit den Nazis ließ sich etwa die Versorgung der Ghettos organisieren. Die jüdische Führung sah sich einem nicht in Worte zu fassenden moralischen Dilemma ausgesetzt, aus dem es kein Entrinnen gab. Sie mussten selbst dann noch kooperieren, als die Deportationen einsetzten, wobei die Hoffnung bestand, dass die Verschleppten zur Zwangsarbeit und nicht in die Vernichtung fuhren. Man darf nicht vergessen, dass die Mitglieder des Judenrates nicht mehr wussten als jene, die sie vertraten, schon gar nicht, was wir heute wissen. In der antisemitischen Phantasie wäre es einfach zu schön, wenn die Juden an ihrer eigenen Vernichtung schuld hätten. Solche Vorstellungen könnten manche österreichische und deutsche Schuldgefühle entlasten. Obwohl, wenn nicht weil, das Prinzip der Macht, wie Foucault es beschreibt, das ganze System durchzieht, muss man klar zwischen Tätern und Opfern, der Macht der Herrschaft, insbesondere einer Gewaltherrschaft, und den Ohnmächtigen unterscheiden.

Ein wichtiges und schmerzendes, ein überfälliges Buch. Ein Buch, um ein deutsches Kanzlerwort zu paraphrasieren, das man nicht leichten Herzens weglegen mag, weil es glänzend und überzeugend geschrieben ist. So heikel das Thema, so leicht die Feder, mit der Rabinovici - im Wortsinn - seine Materie "bewältigt". Es wird seinen Platz als eine der wichtigsten Publikationen zur Geschichte des administrativen Holocaust einnehmen und darf mit Fug und Recht als Standardwerk bezeichnet werden.

Schwächen? Verzeihliche Redundanzen, die leicht zu verschmerzen sind, weil sie von der Emotion und den Absichten des Autors gerechtfertigt werden. Er wollte den Akteuren des Wiener Judenrates Gerechtigkeit widerfahren lassen, damit sie nicht länger als Opfer negiert werden. Bislang wurden sie meist als "verhinderte Nazis" stigmatisiert, als hätten sie freiwillig und nicht unter Todesdrohung gehandelt. Und so lautet sein unmissverständliches Fazit: "Auch im nachhinein tut sich keine Handlungsalternative zum damaligen Dilemma auf." Keine Opfergruppe hätte unter ähnlichen Bedingungen anders reagieren können. Doron Rabinovici gelang mit diesem Buch die überzeugende, längst überfällige Ehrenrettung der Judenräte.

Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945, Der Weg zum Judenrat.

Von Doron Rabinovici., Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000. 495 Seiten, geb., öS 364,-/e 26,45

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