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Nazi-Götzendämmerung

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Im Frühjahr 1945 war der Herr Karl ein braver Zeitgenosse: Er wußte, woher der Wind wehte und verriet keinen mehr - im Gegensatz zum Fanatiker.

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Im Frühjahr 1945 war der Herr Karl ein braver Zeitgenosse: Er wußte, woher der Wind wehte und verriet keinen mehr - im Gegensatz zum Fanatiker.

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Frühjahr 1945 in Wien. Die Front kam näher. Götzendämmerung. Wer wissen wollte, wußte längst. Wer nichts wissen wollte, wußte auch jetzt noch nichts. Wer in der falschen Gesellschaft den Mund aufmachte, starb. Opportunismus, Angst, zum Teil Einsicht, hatten aber auch einen großen Teil der nazifreundlichen Wiener zum verschwiegenen Frontwechsel veranlaßt. Es war die große Zeit des Herrn Karl. Sagt mir nichts gegen ihn. Er flüsterte das Gerücht, in Rudapest spiele schon wieder die Zigeunermusik, wie eine österliche Frohbotschaft weiter. Er verriet keinen mehr, auf ihn war jetzt Verlaß. Ein braver Mann. Denn auch der Fanatiker, der schnell zur Pistole griff, war noch allgegenwärtig.

Das Ende mit Schrecken, von immer mehr Menschen herbeigesehnt als Alternative zum Schrecken ohne Ende, kündigte sich an. In der Luft noch das Singen hunderter schwerer Motoren, es gibt Geräusche, die niemals wiederkehren. Noch immer der unverwechselbare Geruch von Brand, vermischt mit frischem Ziegelstaub, der Geruch des Bombenkriegs. Oper, Albertina, Parlament, Bundeskanzleramt, Heinrichs- und Philipphof waren am 12. März 1945 zerstört worden. Auf den Straßen brannten noch die Biesenfackeln, das aus zerrissenen Leitungen strömende, knappe, sinnlos verbrennende Gas. Eines Vormittags unerträglicher Lärm. Die Geschütze auf den Flaktürmen griffen in den Erdkampf ein. Tiger-Panzer, wilde Silhouetten vor. den nächtlichen Fackeln, schleuderten, die Bombentrichter umrandend, mit ihren Ketten Pflastersteine in die Luft.

Keine Milch mehr für die Kinder, die Magermilchration für Erwachsene war längst auf ein Sechzehntelliter „weißes Wasser” täglich geschrumpft. Eine Weile noch Brot. Dann nichts. Die „Kleine Wiener Kriegszeitung” empfahl „Hinden-burglichter”: Stearinreste mit etwas Spagat als Docht in eine leere Schuhpastaschachtel gegossen. Sie kündigte unter dem Titel „Im Frack um die Welt” den Vortrag eines ehemaligen Kellners in der Urania an. In der gleichen kleinen Schrift die Todesurteile gegen Johann N. wegen defaitistischer Äußerungen und gegen mehrere Kommunisten in Linz. Auf den Straßen Plakate: „Wien ist zum Verteidigungsbereich erklärt worden. Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen.” Der Beichsverteidigungskommissar. Auf einem das hastig dazuge-schmierte Wort: Wohin?

Immer mehr Volkssturm auf den Straßen. Unterernährte Burschen unter 16, die noch jünger aussehen, als sie sind. Alte Männer mit eingefallenen Gesichtern. Zivilkleidung mit Armbinde: Deutsche Wehrmacht. Sie lernen, mit der Panzerfaust umzugehen. Klammer lösen, Kopf abnehmen, Zündladung und Zünder ins Rohr, Kopf wieder drauf, Visier aufklappen, Sicherungsstift bis zum Anschlag vorschieben, Rohr auf die Schulter, zielen, abdrücken. Trifft man den Panzer, frißt sich die Haftladung durch die Panzerung, bevor die Sprengladung losgeht. Der Schütze mußte sich vergewissern, daß hinter ihm niemand stand. Der Feuerstrahl, der hinten aus dem Rohr fuhr (Pappkappe nicht abnehmen, verbrennt von selbst!), wirkte auf drei Meter Entfernung unbedingt tödlich. In den Bahnhöfen stehen die gefürchteten Männer mit dem halbmondförmigen Blechschild: Feldgendarmerie. Soldbuch nicht dabei, Ürlaubspapiere nicht in Ordnung? In den letzten Kriegstagen: Todesurteil. Auf den Brücken fliegende Kontrollen. (Ich geriet in eine hinein und wäre fast nicht mehr herausgekommen.) In der Karwoche werden noch einmal Zuckerln verteilt und man darf noch ein Paar Schuhe oder zwei Handtücher kaufen. Wenn man kann. Der Artilleriebeschuß beginnt. Die Schlange vor manchem Geschäft löst sich nach einem Einschlag in ein Dach im Regen der Dachsparren und Ziegel blitzartig auf. Die Bevölkerung schleppt Notbetten, Matratzen, Kisten, Kerzen, Kochgeschirr, Kleidung, Dokumente, Schmuck, die letzten Nahrangsmittel, mancher auch ein paar Erinnerungsstücke in die Keller.

Mitte März trat die sowjetische 3. Ukrainische Front unter Tolbuchin gleichzeitig mit der 2. Ukrainischen Front unter Malinowski beiderseits der Donau zum Angriff an. Spitzen ihrer 46. Armee überschritten am 28. März die österreichische'Grenze. Am 1. April rollten die T34 durch die Bucklige Welt.

Ein Bild für Alfred Kubin

Mitten auf dem Schwedenplatz liegt ein von einer Granate zerrissenes Pferd mit allen Vieren in der Luft, sie schwanken hin und her, wie Raben hocken klein und schwarz die Menschen um das Pferd und schwingen Messer, denn das Pferd ist noch ziemlich frisch. Es ist ein Bild für Kubin oder wenigstens Fro-nius. Aber ich habe keine Ahnung, wo die Bussen waren, als das tote Pferd zerlegt wurde.

Am 2. April berieten im Wehrkreiskommando Wien, dem heutigen Ministeriengebäude, Major Carl Szokoll und andere Hitlergegner,

was zu tun sei. Szokoll hatte der Of-fiziersverschwörang angehört, die am 20. Juli 1944 versucht hatte, Hitler zu beseitigen und den Krieg zu beenden. Nach dem 20. Juli kostete der „Rest des Zweiten Weltkrieges” noch mehr Opfer als die fünf Jahre davor. Szokoll kam davon, weil er sein letztes Telefongespräch mit den Verschwörern in Berlin nicht direkt geführt, sondern von Wien aus irgendeine mit der Beschaffung von Stiefeln befaßte Feldzeugstelle angerufen und sich von dort aus zu Staufenberg hatte weiterverbinden lassen. Dessen Ferngespräche wurden zu diesem Zeitpunkt bereits registriert - Ortsgespräche noch nicht.

Dadurch war die Infrastruktur des militärischen Widerstandes in Wien im Frühjahr 1945 noch intakt. Der damalige Oberfeldwebel und spätere österreichische Gendarmeriegeneral Ferdinand Käs erklärte sich bereit, sich zu den Bussen durchzuschlagen.

Szokoll stattete ihn mit Papieren aus, die es ihm gestatteten, jede deutsche Streife zu passsieren. Er veranlaßte die Russen zu schwerwiegenden Umdispositionen. Sie griffen nun nicht dort an, wo sie von der SS des Generals Sepp Dietrich erwartet wurden, sondern umgingen Wien, dem dadurch das Schicksal von Budapest erspart blieb. Weitreichende Zerstörungen wurden vermieden, die wichtigsten Infrastrukturen, vor allem die Hochquellwasserleitung und Versorgungsbetriebe wie das Ankerbrotwerk blieben erhalten. Aber ohne den Verrat Major Biedermanns durch einen fanatischen NS-Führungsoffizier hätte die Einnahme Wiens weniger Opfer gekostet.

Die Stunde der Plünderer

Am 3. April erschienen die ersten sowjetischen Flugzeuge über Wien. Sie warfen leichte Bomben und nahmen da und dort eine Straße unter Maschinengewehrfeuer. Am 8. April stand die Rote Armee, von Westen kommend, in der Peter-Jordan-Straße und am Westbahnhof. Ums Allgemeine Krankenhaus wurde zwei Tage gekämpft. Dann standen die Russen am Kai, er blieb tagelang Front. In der Nacht vor der Befreiung des zweiten Bezirks sah ich als Brandwache vom,Dachbodenfenster unseres Hauses die Stephanskirche brennen.

Schläge von Gewehrkolben gegen das Tor des Palais Auersperg, wo Nazigegner über erste politische Maßnahmen nach der Befreiung beraten. Die Hausherrin öffnet. Gepanzerte SS-Fahrzeuge. Sie erwartet das Schlimmste. Aber es fragen nur ein paar erschöpfte junge Burschen mit Verbänden, ob sie etwas Brot und Wasser haben können. Sie bekommen beides, danken, sitzen auf, fahren weiter. Die Hausherrin wirft einen Blick auf weiße Runenschrif-ten. Später wird sie erfahren: Diese Einheit hatte das Massaker von Ora-dour auf dem Gewissen.

Auf den Straßen nur noch SS, Wehrmacht, Volkssturm. Und natürlich die Plünderer. Und die kleinen weißen Zettel: „Plünderer werden standrechtlich erschossen”.

Menschentrauben vor den Läden schlagen mit Beilen und Stangen Löcher in die Bollbalken, schlitzen sie auf, dringen zuerst in die Lebensmittelgeschäfte, dann in die Schuh-und Kleiderhandlungen, zuletzt ist in vielen Straßen kein intakter Bollbalken mehr zu finden. Wer sich Zeit läßt, findet nur noch umgeworfene Ladentische, zersplitterte Vitrinen, aufgesprengte Kassen und auf dem Boden einen Brei aus Mehl, Grieß, Waschpulver, Scherben, Zucker und Marmeladenersatz. Seit Monaten sagen die Wiener: „Daß wir noch Ratten fressen werden, wissen wir, aber vor dem Rattenersatz graut uns schon heute”. Jetzt ist es so weit.

Mancher hungernde, gewaltsam ins „Reich” verschleppte Fremdarbeiter wird von der SS auf der Stelle erschossen. Mancher rennt mit seiner kostbaren Beute mitten in die Explosion einer Granate. Tagelang sieht man sie liegen, mit grauen Gesichtern und verkrampften Händen. Den Rucksack noch auf dem Rücken. SS und Wehrmacht betreten längst kein Haus mehr. Sie wissen, was ihnen dort blüht. Verteidigung bedeutet Zerstörung.

Rote Fahnen mit Kreis

Aber wer schleicht da nächtens aus dem Haus? Der Herr von nebenan. Was hat er auf dem Arm? Was Braunes. Natürlich, die Uniform. Schwupps! Da liegt sie im Bombentrichter, und die Schaftstiefel hinterher. Aber sie fiel wenigstens weich, die arme Uniform, und auch nicht gleich in den Schlamm, denn da lagen schon welche, braune, aber auch schwarze und feldgraue. In vielen Bombentrichtern in ganz Wien leuchtet es verdächtig braun. Und seltsame Konfetti hat man auch in die Trichter gestreut, große, schwarzweißrote... ach nein, keine Konfetti, nur Parteiabzeichen. Und ganze Bibliotheken liegen auf den Straßen und in den Hausfluren, aber die Abwechslung ist gering. Immer wieder „Mein Kampf” von Hitler und „Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts” von Rosenberg.

Zuerst werden weiße Fahnen gehißt, dann die roten. Sie sehen seltsam aus, sie haben ein dunkles Rund in der Mitte, dort hat der aufgenähte Kreis mit dem Hakenkreuz sieben Jahre den Stoff vor dem Licht geschützt. Eine Frau, wenige Wochen vorher noch stramm und deutsch, zerbricht im Keller jubelnd eine Schallplatte mit dem Horst-Wessel-Lied, und alles ruft hurra.

Hitler lebt noch. Überall Ruinen, Schutt, Autowracks, Granattrichter, Tote, die in den Parks verscharrt werden, herabhängende Leitungen, ausgebrannte Panzer. In einem davon starb der Sohn des Sowjetmarschalls Tolbuchin, des Befreiers von Wien. Einer von 35.000 toten Sowjetsoldaten. Dieser Panzer steht heute vor dem Arsenal. Die Panzerfäuste haben grauenhaft gewütet.

Jeder weiß, wie es weiterging. Die Wiener tanzten mit den Bussen auf dem Ring. Nie vorher, nie nachher war Wien so antifaschistisch wie im Frühling und Sommer 1945. Am 8. Mai, an dem die Provisorische Staatsregierang - ohne jede rassische Einmischung! - das Verbotsgesetz beschloß, unterschrieb Keitel in Berlin die Kapitulation. Es wurde ein wunderschöner Frühling in einer befreiten Stadt.

Auch Major Szokoll, der ihr ungezählte Menschenopfer und gewaltige Zerstörungen ersparte, wurde selbstverständlich geehrt. Wenn auch erst ein paar Jahrzehnte nach dem Krieg.

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