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Neue Maximen geschaffen

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Die Treue Johannes gegenüber seiner einheimischen Gemeinschaft drückte sich nicht In Gesten aus, in den Wohltaten eines „Pfarrers in der Familie“, sondern in der Treue jenen Eigenschaften gegenüber, die den Wert des Volkes bestimmen: Geduld, Einfachheit, Demut, mit seiner von diesen Eigenschaften durchtränkten Tätigkeit erhob er das Volkhafte zu den Höhen des Allgemeinmenschlichen.

Johannes XXIII. war wie der biblische Joseph mit dem Segen der Erde und des Himmels, der Tiefen und der Gipfel gesegnet. Die Einfachheit des gewöhnlichen Menschen verliert sich nicht selten Irgendwo unterwegs, wenn dieser Mensch beginnt, ungewöhnlich zu werden. Johannes XXIII. machte diese Einfachheit zum Prinzip seiner universellen Tätigkeit und verlieh den einfachen, für das Volk offensichtlichen Wahrheiten die Kraft eines Argumentes, die die gewandtesten und tiefsten Geister überzeugt.

Die Gestalt Johannes XXIII. ist eine Gestalt aus apostolischen Zeiten der ersten christlichen Gemeinden. Und seine Haltung gegenüber der Welt ist ebenso heldenhaft wie die der ersten Christen, denn die Verkündigung der Liebe und des

Friedens, der Armut und der Barmherzigkeit ist auch heute so zu einem „Ärgernis für die Welt“ wie einst geworden, wie in den Zeiten, als „die alte Welt sich ihrem Ende zuneigte und Götter und Menschen rasten“.

Das „Aber“ überwunden

Die Würde, der Prunk, der Reichtum der Kirche, die hinter dem Amt des Papstes stehen, erleichterten Johannes seine Aufgaben nicht. Sie hätten ihn, wie so viele andere auch, in alle diese mit dem irdischen Leben verbundenen „Aber“ verstricken können. Johannes, dieser evangelische Mensch, bot der Welt Liebe und Barmherzigkeit dar und wollte, daß die Kirche wieder zur Kirche der Armen werde. Und so wie er die allgemeinweltlichen Angelegenheiten im Lichte der wichtigsten, letzten Dinge (und zugleich der ursprünglichsten, dem natürlichen Moralempfinden angeborenen) sah, so stützte er das große Werk der Erneuerung des Christentums auf seine ursprünglichsten, reinen Quellen, auf das wortwörtliche Verstehen und Verwirklichen des Evangeliums.

An das Werk des Konzils, ein Unternehmen von so riesigem Ausmaß (und Bedeutung), daß es in der heutigen komplizierten Welt undurchführbar scheinen könnte, ging er heran mit der ihm eigenen großherzigen Einfachheit. Johannes XXIII. löste im Christentum, aber nicht nur im Christentum, Kräfte aus, die fähig waren, seine Absichten in die Tat umzusetzen.

Sein Tod trug alle Merkmale der Tragik — „in der Mitte meiner Tage verließ ich mein Werk, wie der Weber seinen Webstuhl verläßt“. Johannes XXIII. opferte Gott Leiden und Sorge um das Schicksal der Kirche. Er glaubte daran, daß Gott zu Ende führen werde, was er mit Johannes' Händen begonnen. Das ist auch Heldentum bei ihm: seinen Dienst bis zum letzten Atemzug erfüllen und nicht verzweifeln, wenn er unterbrochen werden muß.

Ein neues Ziel gesteckt

Die Gedanken, Intentionen, die Persönlichkeit Johannes' weckten in der Welt neuen Glauben an die Möglichkeit des Sieges des Guten, an die Möglichkeit, Gutes alltäglich und in allgemeinmenschlichem Ausmaß zu tun. Obwohl sein gütiges und kluges Lächeln die Welt so kurz verklärte, wird er für immer ein Vorbild und die Bürgschaft dafür bleiben, daß ein guter Mensch nicht den Gesetzen des Dschungels erliegen muß. Johannes XXIIL, der Beste unserer Zeitgenossen, war doch einer von uns — und für lange Zeit reichen uns die Beispiele aus seinem Leben, die uns überzeugen und anschaulich lehren werden, daß die Synthese von scheinbar Unver-einbartem möglich ist: Einfachheit und Geistesschärfe, Barmherzigkeit und Entscheidung über die letzten Dinge, Liebe zu seinem Werk und Abschied davon ohne Verzweiflung, das Bejahen des Lebens, aber auch der Todverfallenheit, Liebe zu dem, was überliefert worden ist, und Wohlwollen gegenüber dem Neuen. Wahrlich, es ist eine große Gnade Gottes, daß es uns vergönnt war, ihn zu sehen.

Johannes XXIII. wurde zur Vergebung für die Irrenden, denn es war dies ein Papst der Irrenden, er verteidigte die Verdammten — seit seinem Pontifikat wurde niemand verdammt —, er antwortete auf die quälenden Fragen solcher Menschen wie Simone Weill, und für so manche von denen, die das Glück hatten, ihn mit eigenen Augen zu sehen, wurde er zum Ruf und zur persönlichen Berufung.

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