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Neue Menotti-Oper und Schostakowitsch-Symphonie

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Drei Werke wurden, wie alljährlich, durch die Vereinigung der New-Yorker Musikkritiker ausgezeichnet: Carl Orffs „Carmina burana“ (anläßlich ihrer amerikanischen Erstaufführung unter Stekowsky) als bestes Chorwerk des Jahres, Gian-Carlo Menottis „Die Heilige von der Bleecker Street“ als beste Oper und Dimitri Schostakowitschs 10. Symphonie als bestes Orchesterwerk des Jahres.“

— Die beiden letzteren hörten wir im Laufe einer Woche in Wien.

„Die modernen Dramatiker sind in bezug auf das Theater viel zu schüchtern, und solche Schüchternheit ist für einen Opernkomponisten verhängnisvoll“, schrieb Menotti im letzten Heft der Zeitschrift „Perspektiven“. Von solcher Schüchternheit ist er selbst allerdings NVöllig frei. Das beweist jedes seiner Werke, zu denen er sich bekanntlich die Texte selbst schreibt. Den bisher kühnsten Griff wagte der heute 42jährige in Amerika lebende Italiener mit seinem musikalischen Drama in fünf Bildern „Die Heilige von der Bleecker Street“. Das Stück spielt in der Gegenwart, im Italienerviertel von New York. Im Schatten der Wolkenkratzer hat das traditionstreue Völkchen nicht nur seine Tracht, seine Lieder und seine Sitten, sondern auch seinen Wunderglauben bewahrt. Die junge Annina wird als Heilige verehrt, weil sie an jedem Karfreitag die Leidensgeschichte Christi visionär erlebt und an ihren Händen Wundmale trägt. Ihr großer Bruder Michele, ungläubig und bereits sehr amerikanisiert, liebt sie auf eine gewalttätige Art und begründet dies nach außen damit, daß er Annina vor der Zudringlichkeit der anderen beschützen will. Das führt zu Konflikten mit der Umwelt und schließlich zn einem Eifersuchtsmord. Annina stirbt, unmittelbar nachdem ihre Einkleidung als Nonne vollzogen ist. Ueber allen aber wacht die kluge Güte des weisen Priester Don Marco. — Wunderglaube und Materialismus, Heimatverbundenheit und Amerikanis-mus, Geschwisterliebe und Eifersucht: das sind bei Menotti nicht nur dramatische Konflikte, sondern auch wirkungsvolle, bildhaft erfundene theatralische Szenen. — Musikalisch geht es auch in diesem Werk — wie im „Konsul“ oder im „Medium“ — recht unbedenklich und effektvoll zu. Menotti bekennt sich freimütig zu seinen großen Vorbildern Pnccini und Mussorgsky, welche, als einzige, es verstanden haben, Arien zu schreiben, die die Handlung vorwärtstreiben Von ersterem hat er sich nicht nur gewisse Lyrismen, sondern auch die Technik des dramatischen Duetts und des wirkungsvollen Ensemble abgehört. Originell bleibt jedenfalls, wie in die neoveristische Handlung Gregorianik und neapolitanische Hochzeitslieder, Bluesmelodien aus dem Musikautomaten und Gershwinrhythmen aus dem Orchester miteinander verbunden werden. — Mit der Inszenierung Herbert Grafs in der Volksoper hat sich der Komponist, der bisher — in New York und an der Scala — auch sein eigener Regisseur war, einverstanden erklärt. Die fröhliche Armut der Kostüme und der Szenerie kontrastiert wirkungsvoll mit dem riesig und fahl aufragenden Wolkenkratzer im Hintergrund. Eine gute Aufführung dieses Werkes, ja die Erträglichkeit mancher Szenen, ist weitgehend von der Trägerin der Titelrolle abhängig. Die amerikanische Farbige Camilla Williams ist eine ergreifende und überzeugende Annina, der man auch ihren Glauben glaubt. Dieses Schwierigste auf der Bühne, wo es im allgemeinen nicht hingehört, verwirklicht zu haben: das hebt ihre Leistung weit über das Gewohnte hinaus. Trotzdem ist die szenische Darstellung einer Einkleidungszeremonie sehr bedenklich, zumal hier coram publico die letzten Gelübde abgelegt werden. (In den übrigen Rollen: Sonja Draksler, Dorothea Siebert, Henny Herze und Margarita Kenney. Den Don Marco spielte ruhig und vertrauenerweckend Alois Pernerstorfer, den wilden Michele mit Temperament Josef Gostic. Heinrich Hollreiser dirigierte.)

Die New-Yorker Philharmoniker unter ihrem derzeitigen ständigen Leiter Dimitri Mitropoulos brachten uns als interessantestes

— wenn auch keineswegs bedeutendstes — Werk die X. Symphonie von Dimitri Schostako-witsch mit. Wir haben seinerzeit nach der Uraufführung dieses Werkes unter dem Titel „Eine optimistische Tragödie“ („Die Furche“ vom 19. Februar dieses Jahres) ausführlich über die lebhafte Diskussion berichtet, die sie in sowjetischen Zeitungen und Künstlerkreisen ausgelöst hat. Es ging dort um die Frage, ob in der sowjetischen Kunst für Tragik Platz sei. — „Die Tragik ist auswegslos, was für die Menschen der sozialistischen Gesellschaft nicht typisch ist.“ So argumentierte die eine Seite. Schostakowitsch und seine Gesinnungsgenossen dagegen verteidigten „die Tragödie als Kategorie“; ja, der Komponist ging noch einen Schritt weiter und sagte, diese Symphonie drücke die Gedanken und Empfindungen seiner Zeitgenossen aus.. . Nun haben wir, in einer sehr eindrucksvollen Interpretation, das Werk kennengelernt und können bestätigen, daß Schostakowitsch ein auffallend düsteres, verqüältes und, leider, in künstlerischer Beziehung unbefriedigendes Werk geschrieben hat. Da ist zunächst die störende Disproportion der einzelnen Teile: ein mehr als 20 Minuten dauernder langsamer erster Satz, dessen Atem schwer und stockend geht, in der Form mehr rhapsodisch als symphonisch, nicht nur lang, sondern auch langweilig. Auf ihn folgt ein heftig lärmendes Dreiminutenstück als Allegro, hierauf ein von einem klagenden Andante unterbrochenes fahles Scherzo, und als Abschluß ein zweiteiliger Schlußsatz (Andante-Allegro), der als einziger durch seine Konstruktion und den frischen Impetus der Bewegung befriedigt. — Vorausgegangen waren zwei von M i 1 h a u d für großes Orchester bearbeitete und orgelmäßig instrumentierte Couperin - Sätze sowie die selten aufgeführte „Reformation s-Sym-p h o n i e“ von Mendelssohn. Im ersten Konzert spielten die New-Yorker Philharmoniker, nach der rasant vorgetragenen Ouvertüre zu „M acht des Schicksals“ von Verdi die 2. Symphonie von Robert Schumann und die Zweite von B r a h m s. — Betont kräftige Farben und die Neigung zu einem sehr unruhigen und nervösen Rubato-Spiel bestimmen den im ganzen positiven Gesamteindruck. Der Perfektion einzelner Instrumentalisten, insbesondere der Holzbläser, entsprach nicht ganz die des Ensemblespieles. Man hatte nicht das Gefühl, daß die vorgeführten Werke unmittelbar vor der Aufführung genau überholt worden sind. Mitropoulos selbst, von dem viele ausgezeichnete Schallplattenaufnahmen existieren, erinnert nicht nur äußerlich, sondern auch in der impulsiven Art seines Dirigierens an Furtwängler (den er übrigens sehr verehrt hat). Mit diesem ersten Gastspiel nach 25 Jahren — die New-Yorker waren zuletzt 1930 unter Toscanini in Wien — wurde die heurige Saison im Konzerthaus glanzvoll eröffnet.

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