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Neue Stimme der Verfremdung

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AM PASS NASCONDO. Erzählungen von Gerd Gaiser. Carl-Hanser-Verlag, München. 248 Seiten.

Zu literarischer Spurensuche verlockt dieses erstaunliche Buch, das die Rezensionsjagdgründe zumeist unerkannt passiert hat. Dabei sind die in der Art einer Kristalldruse von gemeinsamer Wurzel ausgehenden Geschichten verräterisch genug: hier entstand aus dem Bedürfnis der Abstandsuche zu den Phänomenen unserer Welt eine neue funkelnde Summa surrealer Verfremdung

Stifterische Dingakribie scheint uns zunächst mit aller Dämonie und Beklemmung und wortmächtiger Spracherotik zu empfangen: in einer wie von Joseph Anton Koch erdachten romantisch-heroischen Ideallandschaft. Doch Gaiser meint das nicht. Was meint er denn? Wohin deuten die Säkula und geographische Räume verkörpernden Orts- und Ländernamen? Pro-mischur und Calvagora, Vioms und der See Lai Ner, aus dem ein, Pferd trinkt, das mit den Wesen der Tiefe kommuniziert — wo gibt es das? Überall und nirgendwo wie in Kubins „Die andere Seite“. Doch Gaiser meint nicht einen noch human behausten magischen Komplex. Er zielt anderswohin.

Gespenstische Gasterei bei einem Traumlandbeamten, mit Zwangszeremoniell, mit eingefrorenen Leckerbissen, die alsbald Gestank anheben — ist das ironisierter Westen? Dazu Leute aus Calvagora, trinkfest an mitgebrachtem Schnaps, hemdsärmelig und tiefenvital wie Nikita —, das ist doch grausig-heimeliger Osten, wie? Keineswegs, wir fallen nicht darauf herein, das geschmeidige Wild will anders erlegt sein.

Nun ziehen Traumkähne über den See, fahren über Ausflügler hinweg ohne sie zu rammen, obwohl es zugleich auch Lastkähne voll Schotter sind. Eine Frau, die sich gleich in eine andere verwandein wird, haspelt bedeutungsschwer eine Schnur. Stop — hier liegen Schloß und Schlüssel für das Buch. Die Frau spricht von Verbenen, fast entspinnt sich ein Streit: der Erzähler hat doch in der Brachvogelstraße in Neu-Spuhl Zinnien versprochen (nicht Gladiolen!), und heischend war sie immer schon mit ihrem: „Konnten Sie nicht wenigstens eine Lüge mitbringen?“ Doch gleich verwandelt sie sich, wird Gina Gialli mit ihrer Bitterkeit, wird zur Schaffnerin Schaub mit deren Grämlichkeit, wird das rüd-aparte Mädchen Neß, das eigentlich gesucht ist.

Schlüssel? Ja, und er paßt überall, in den Sinn jeder Szene rund um den Paß Nascondo. Schon denken wir an Andre Bretons surrealistisches Manifest, George Grosz sagt: „Es ist weder Mystizismus, noch Kommunismus, noch Anarchismus“. Apollinaire hat 1917 den Begriff Surrealismus geprägt. Aragon ist da mit einem „Hereinspaziert — hier finden Sie die herrlichsten Momentaufnahmen!“ Vor allem und immer wieder erinnern wir uns der Bilder von Max Ernst.

Hinweise Bind das auf zeiträumlich mehr oder weniger entfernte Ahnen- und Verwandtengalerien. Im literarischen Sektor kommt uns noch anderer Geschmack auf die Zunge. Die Verfremdung des Ichs durch unvereinbare Aufspaltungen, über die Piran-dc-llo im Vorwort zu „Sechs Personen suchen einen Autor“ philosophiert, ist zu nennen, Schnitzlers Problematik von Sein und Schein im „Grünen Kakadu“, Samuell Becke, aber auch E. T. A. Hoffmannn, E. A. Poe, Meyrinks „Golem“, Gottlieb Wetzel mit den untereinander austauschbaren „Nachtwachen de Bonaventura“, Kafka. Soviel Namen, soviel Individualitäten, dem Leitmotiv grotesk-surrealen Verfremdungszwang untenan. Gaiser befindet sich in bester Gesellschaft.

Er verfeinert, sublimiert seinen Surrealismus, stellenweise bis zur Unkenntlichkeit. Er hat die Tricks der Pseudomagie elegant herauspräpariert und wendet sie, kühl bis ans Herz, an.

Mißtrauisch gegen jede rationalistische Weltdeutung, erhebt er jeden Satz, jedes Bild mit apodiktischer Strenge zu beweiskräftiger Gewißheit, zelebriert er, niemals lächelnd und mit apodiktischem Ernst Wortriten, und was den Anschein von Schilderung, von Zeitsatire oder Weltkritik erweckt, ist nur Tarnung. Im Blick zurück aus der Ahumanitas fortgerückt, “ver-rückt sind seine Begegnungen, Sentenzen, seine Dingdynamik, seine Expeditionen in geologische und geschichtliche Zeitalter.

Ein starkes, homogenes, ein exemplarisches Buch, Revolte eines Dichters. Aller Surrealismus ist bis zum letzten Atemzug Revolte gegen naives Denken, gegen ungeprüfte Begriffe. Zugleich ein Drama, das Drama einer verwegenen Attacke. Denn je höher die künstlerische Vollkommenheit surrealer Scheinmystik und Scheinmagie geschraubt wird, um so vollständiger ist die Niederlage gegenüber der Wirklichkeit der Welt. Das Scheitern ist hier der Sieg, und Gaiser hat sich im dialektischen Sieg über die spröde Materie als Hexenmeister über eine Fülle Welt erwiesen.

Johann A. Bo eck

Zum 77. Male bietet sich „Das Neue Universum“ (Union-Verlag, Stuttgart) an und dokumentiert damit seine konkurrenzlose Tradition auf dem Gebiet der Jugendjahrbücher. Die Wahl der Themen von Kosmos und Technik über Kunst und Kultur bis zu den anspruchsvollen Denkaufgaben ist gut getroffen. Höchst eindrucksvoll die farbigen Illustrationen. — Ob junge Mädchen viel über sich nachdenken? „Unruhige Jahre“ von Maria Kirchgeßner (Union-Verlag, Stuttgart) macht es ihnen leicht. Dichter und Schriftsteller von Rang haben dem Teenager von heute viele Fragen und Wünsche, Nöte und Probleme abgelauscht und in erzählender Form ein prächtiges Buch, wohl erst für Mädchen ab 14 Jahren, geschaffen. — Der Phantasie der Buben von heute bietet Friedrich W a 11 i s c h s „Das Schiff Atlantis“ (Waldheim-Eberle, Preis 29 S) reiche Nahrung. Die Geschichte von drei Buben auf „tiefer Fahrt“ ist spannend, unterhaltend und belehrend. — Band 1 und 2 einer neuen Abenteuerreihe von zwei Wikingerbuben, Peter Dan: „Rolf auf der Bäreninsel“ und „Rolf bei den Araber n“, bringt die Schweizer Druck- und Verlag-AG., Zürich (je 120 Seiten, Preis 2.90 sfr.). Der Verfasser ist ein dänischer Sprachwissenschafter und Psychologe, der auch sein Handwerk als Schriftsteller versteht.

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