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Neue Wege der Erziehung

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Durch die gegenwärtige Anwesenheit des Begründers der „Bubenstadt“ von Omaha, Nebraska, Msgr. Flanagan, in Wien wird die Aufmerksamkeit der österreichischen Öffentlichkeit auf ein bedeutungsvolles pädagogisches Werk geriditet, dessen erzieherische Leitideen die führende österreichische Sdiulwelt sdion einige Zeit beschäftigen und in programmatischer Planung ihren Niederschlag gefunden haben. In diesem Sinne dürfen die nachstehenden Ausführungen besondere Aktualität beanspruchen. „Die Furche“

Unter den vielen Sorgen unserer Zeit steht der pädagogische Notstand als eines ihrer brennenden Probleme im Vordergrund. Er manifestiert sich auf drei Ebenen: als schwere moralische Gefährdung unserer Jugend, als bedenklicher Rückgang der Leistungen geistigęr Art und als Krise eines höchst unklar gewordenen Erziehungsdenkens.

Aber auch angesichts dieser Tatsachen bleibt es eine unentrinnbare Wahrheit, daß der eigentliche Kern aller Weltverbesserung nur in einer qualifizierten Erziehung der Jugend liegt und daß wir keine Hoffnung auf bessere Zehen hegen dürfen, wenn wir nicht zu einer Vertiefung der Jugenderziehung und darüber hinaus zu neuen Wegen und zu Methoden gelangen, die den Notwendigkeiten unserer Zeit entsprechen.

Wir brauchen neue Wege der Erziehung, weil sich die soziologischen und die psychologischen Tatbestände im Erziehung s Verhältnis seit einigen Jahrzehnten grundlegend geändert haben und weiter in Änderung begriffen sind. Nicht nur im politischen und ökonomischen Bereich erblickt unsere Zeit nach den Verirrungen eines mit der Renaissance einsetzenden und sich im 19. Jahrhundert voll äuswirkenden Individualismus die Wendung zur sozialen Auffassung des Lebens, sondern auch im pädagogischen. Dir von Pestalozzi vorbereitete sozialpädagogische Auffassung ist in unserem Jahrhundert endgültig zum Siege gelangt. Das goldene Wort der Erziehungsenzyklika Pius’ XI. „Erziehung ist notwendigerweise eine Arbeit der Gemeinschaft, nicht des einzelnen“, setzt den Schlußstrich unter eine abgelaufene Ära def pädagogischen Denkens. Aber noch ist nicht allenthalben die Konsequenz aus dieser Entwicklung gezogen. Das will sagen, daß vieles an unseren Erziehungseinrichtungen noch immer auf den Voraussetzungen des Individualismus beruht, und darum ist die Aktivierung ąller Kräfte der Gemeinschaft die eine große Aufgabe bei der Suche nach neuen, zeitgemäßen Erziehungswegen. Von diesem Teil unsres Problems wird später noch zu reden sein, vorher aber wird noch die zweite große Veränderung im Erziehungsverhältnis gesehen werden müssen.

Diese ist psychologischer Art. Vieles an unserer herkömmlichen Erziehung in Familie und Schule beruht auf dem Begriff der Autorität, wie sie Eltern und Lehrer, ja die Erwachsenen schon an sich, einst für Kinder und Jugendliche mit einer gewissen Selbstverständlichkeit besaßen. Das war schön und gut so — und wohl uns, wenn dem noch so wäre. Es ist aber nicht mehr so. Auch wenn viele Erzieher es tausendmal nicht wahrhaben wollen, so muß es doch festgestel'.t werden, daß die Jugend unserer Tage — auch ihr bester Teil — die Autoritätseinstellung der „Lud- wig-Richter-Famiüe" und ihres romantischen Milieus nicht mehr kennt. Woher sollte sie denn auch kommen? Doch nicht aus den Bedingungen, unter denen unsere gesamte Jugend seit langem aufwächst. Eine seit Jahrzehnten wirksame Entwicklung der sozialen Verhältnisse, dann aber besonders das Erlebnis der letzten Jahre — was haben doch diese Kinder und Jugendlichen alles gesehen und gehört! — mußte dazu führen, daß die Jugend unserer Zeit keinem Erwachsenen mehr einen Blankokredit an Ehrfurcht oder Vertrauen zubilligt, ja, daß sie auch den besten Eltern und Erziehern nur eine sehr begrenzte Autorität beimißt, die leicht erschöpft ist und rasch in nichts zerrinnt, wenn nicht viel Geschick am Werke ist. Was bleibt aber dann übrig an Erziehungseinfluß? Mangels anderer Motive, als es jenes der Autorität ist, steht dann häufig das pädagogische Fiasko bevor und dies in einer Zeit, die ein Optimum an pädagogischen Einflüssen brauchen würde, um gesunden zu können.

Die so häufigen Klagen über die Schwererziehbarkeit der heutigen Jugend gehören ebenso hieher wie die erschütternden Mißerfolge, die sich in dem Verhalten so vieler Jugendlicher und in dem Versinken eines Teiles in der Krimi nalität widerspiegeln. — Das alles mag unerfreulich sein, der realistisch denkende und verantwortungsbewußte Erzieher wird aber mit den Tatsachen rechnen und seine Konsequenzen aus ihnen ziehen müssen.

Und docHerlebt das alles nicht erst unsere Zeit, sondern es ist vielmehr so, daß wir nur heute in großem Umfang einer Situation gegenüberstehen, die den Weitblickenden schon vor ein oder zwei M e n s c h e n a 11 e r n als eine heraufziehende Gefahr erschien und die unter besonderen Umständen schon damals bestand. Es ist jetzt etwa hundert Jahre her, daß Don Giovanni Bosco in Turin die verwahrlosten Buben der großen Stadt um sich sammelte und an ihnen sein Werk der Erziehung begann, das nicht die traditionellen Wege beschritt und nicht die herkömmlichen Mittel anwenden konnte. Keine Aussicht auf die versittlichende Wirkung eines höheren Bildungsganges gab es da und keine selbstverständliche Autorität band diese wilden Jungen an Ordnung und Sitte. Ihnen kam man nur bei mit dem Erwecken jener Erziehungskräfte, die eben in ihrer Schicksalsgemeinschaft selbst ruhten; sie konnte man nur ansprechen mit der ganz ursprünglich aufbrechenden Liebe eines Erziehers, der kein hohes Roß ritt, sondern mit dieser unbändigen Gesellschaft als ihr bester Kamerad lebte. Um sie konnte mar. schließlich nur im Gebet ringen, wie dies Don Bosco in er schütterlicher Zuversicht tat.

Dieser seltsame „Bubenkönig“ mußte zunächst natürlich in der bestehenden Ordnung und damit auch in der damaliger pädagogischen Welt ein Unverstandener sein, dessen Wege aberwitzig erschienen. Freilich, seine verblüffenden Erfolge blieben ein Rätsel, um nicht zu sagen ein Ärgernis für alle hergebrachte Pädagogik. In der Tat war Don Bosco ein pädagogisches Genie, nicht nur ein solches der Praxis sondern auch eines der Idee, denn — er sah das Motiv der neuen Erziehung voraus!

Tastend ist ihm die Pädagogik gefolgt. Seit dem Beginn unseres Jahrhunderts liegt der Akzent immer stärker aut den sozial- und moralpädagogischen Fragen, immer schwächer werden die bisherigen Autoritäten erzieherisch wirksam, immer offenkundiger ist ihr Ungenügen angesichts der wirklichen Situation der Jugend.

Im Bereich des pädagogischen Denkens bezeichnet Fr. Wilh. Foerster seit der Jahrhundertwende am deutlichsten den Schritt von der indivi Jualistisch-intellek- tuellen zur sozialethischen Auffassung der Erziehung. Sein Ringen um die Schülerselbstverwaltung zum Beispiel ist zunächst wieder nur intellektualistisch verstanden worden, indes es ihm dabei um den neuen Weg der Erziehung durch die Gemeinschaft ging, um die Gewinnung neuartiger Autoritätsbeziehungen. Die gleiche Zielsetzung steht letzten Endes hinter G. Kerschen- steiners Konzept der Arbeitsschule, deren sozial-ethischer Grundgedanke aus seinen Worten erhellt: „Das Bewußtsein, daß man eine Arbeit, und wäre es auch die kleinste und niedrigste, zum Wohle de: Gemeinschaft ausführt, der man angehört, leitet immer die Versittlichung unserer Tätigkeit ein.“

Nach dem ersten Weltkrieg, 30 Jahre nach Don Boscos Tod, hatte die Welt erst einen Teil seiner gewaltigen pädagogischer. Aspekte verstanden. Aber sie fiel damals in die erste große geistige Krise und suchte darum Hilfe bei der Erziehung. Damal' wies die Heiligsprechung des „revolutionären Erziehers“ — den auch so viele Fromme nicht verstanden hatten —, des Erziehers der Verwahrlosten, eine pädagogisch unsicher und mutlos gewordene Generation auf die notwendige Erneuerung der Erziehung hin. Doch nun ergab sich die seltsame Tatsache, daß die letzte, eben die religiös Konsequenz der neuer Erziehung eines Bosco, eines Foerster und ihrer Weggenossen gerade denen ein Ärgernis und eine Schranke wurde, die sich angeblich dem pädagogischen Fortschritt ver schrieben hatten — und darum mußte in dem Jahrzehnt nach 1918 so viel hoffnungsvolles Beginnen versanden oder irregehen.

Dann kam der zweite Weltkrieg und in seinem Gefolge eine Kulturkrise von bisher ungekanntem Ausmaß. Was Don Boscc g:niale Intuition erkannte, ist nun aber nicht mehr das Problem einige' tausend Verwahrloster, son dern die Frage nach dem Motiv der neuen Erziehung für eine ganze, in den bisherigen Grundlagen ili res Seins erschütterte Generation geworden. Hundert tausende eitern- und staatenlos geworden Kinder, Millionen von Jugendlichen fast ohne jegliche Bindung, ein ganzer Kontinent, dessen moralischer Rückhalt brüchi' geworden ist und auf dem alle egoistischer Triebe entfesselt sind — das ist eine Situation, an die man pädagogisch nur herankommen kann, wenn für ihre Not die adäquaten Mittel gefunden werden. Diese aber müssen tiefer reichen als bloß in die bewußte Sphäre des „erzieherischen Unterrichts“. Denn so ist es unerläßlich für eine Generation, die aus der Überfülle des Erlebten, das gar nicht bemeistert werden konnte, weit hintergründiger ist als jede vor ihr. Da gilt es nun die Verantwortung zu wecken durch alle Formen der Selbstregierung nach einer Ära des verantwortungslosen Führertums, und sie so für die Freiheit reif zu machen, deren sittlicher Gebrauch ebenso ungewohnt wie unverstanden ist.

Das sind etwa die Grundfragen, um welche die neue Erziehung ringt, sind die zusätzlichen Aufgaben, die unserer Zeit über das hinaus erwachsen, was gute Erziehung seit eh und je wollte und vermochte.

Noch ist das meiiste davon ein Problem, doch die Motive sind gefunden, seit Don Bosco und Foerster um die Erziehung gerungen haben; diese Leitideen sind aud: schon da und dort verwirklicht und dann sind sie zu Auswegen in sonst hoffnungslosen pädagogischen Situationen geworden. Rev. Flanagan mit seiner „Stadt der Buben“ in Amerika, Don Rivoltas Kinderdorf in San Martinella bei Rom, die neuerstehenden Kinderdörfer in der Schweiz für die Niemandskinder, die mehr oder minder weit geführten Versuche der Gemeinschaftserziehung nach dem Jena-Plan und manche maßvolle Ver suche individualpsychologischen Ursprungs

— sie alle gehen oder suchen den neuen Weg der Erziehung einer autoritätslos gewordenen Jugend durch v e r s i t t- lichende Gemeinschaftsbindung zur individuellen Erlösung in der gottebenbildlichen Menschlichkeit. Anders bliebe sie im Kollektivismus stecken!

Was für die vielen pädagogischen Notstandsfälle existentiell entscheidend ist, das muß für die pädagogische Gesamtsituation zumindest virtuell bedeutsam sein: neue

Motive und neue Wege zu suchen, den Primat der Erziehung zu erkennen und die unerbittliche Wahrheit einzusehen, daß uns die politische und wirtschaftliche Organisierurįg des Lebens allein nie und nimmer die bessere Zukunft schaffen können, daß wir sie vielmehr — und sei es auch auf neuen und ungewöhnlichen Wegen — erziehen müssen!

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