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Neuer Bar und alte Phaaken

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AUCH DER GEUBTE BALKAN- REISENDE kann sich eines Kribbelns in der Magengrube nicht erwehren, wenn der schnauzbartige Zollner hinter dem winzigen Grenzschalter mit klobigen Fingern und finsterem Amts- blick den Pafi und die Zolldeklaration durchpfliigt, unberiihrt durch die war- tende Menschenschlange, wahrend jen- seits des Schlagbaumes einer seiner Kollegen einen osterreichischen Wagen schon seit einer halben Stunde in alle Teile zerlegt, um nach irgendeiner Konterbande zu suchen. Da der viel- besprochene neue Dinarkurs fiir die Reisenden durch die Preiserhohungen wieder illusorisch gemacht wurde, bluht nach wie vor der kleine Schmuggel zur Aufbesserung der Kauf- kraft.

Aber kaum ist man jenseits der Grenze, ist es immer wieder das gleiche: es iiberfallt einen das Gefiihl, gar nicht liber eine Grenze gefahren zu sein. Es ist, als wenn man sich in einem einzigen grofien Land bewegen wurde, das wohl nur noch in den Traumen und Erinnerungen existiert, das aber doch, auf geheimnisvolle Weise, durch zahllose Blutbahnen und Nervenstrange noch zusammengehalten wird. Es beginnt schon, wenn einem unterwegs die Bauern, mit sparlichen kroatischen Brocken angesprochen, auf gut steirisch antworten, und wenn man durch Maribor fahrt und glaubt, in Graz auf dem Griesplatz — einem etwas vernachlassigten allerdings — zu sein.

Auf eine ruhrende und fiir uns zum Teil beschamende Weise — wer denkt hier schon mit einem Gefiihl der Zu- sammengehbrigkeit an Varazdin oder Esseg, wer von den Jiingeren weifi iiberhaupt noch, wo das liegt? — fiihlen sich die Leute noch mit Wien ver- bunden. In Laibach, Agram und iiber- haupt im Norden sprechen fast alle, besonders aber die Alteren und die Gebildeten, deutsch, etwa so, wie man in Esseg nach wie vor ungarisch und in Abbazia italienisch versteht. Auf den — meist langen und effektiv lieferbaren — Menukarten feiert man Wiedersehen mit guten, alten bster- reichischen Ausdriicken, wie Paradei- ser und Schnitzel, Kipfel und Ko- latschen, Strudel und Pohan („Boche- nes”). Kaum jemanden trifft man, der nicht irgendeine Bindung an Osterreich hat, sei es, dafi er in Wiener Neustadt gedient hat, Verwandte in Wien oder Studienfreunde aus der Zeit an der Grazer Technik hat. Als ich einmal einem Funktionar fiir ein Ent- gegenkommen dankte, sagte er: „Was wollen Sie, wir waren doch einmal das gleiche Land!” Fiir viele ist Wien, nicht politisch, sondern rein mensch- lich gesehen, gewissermafien noch der Nabel der engeren Welt, und mit einer Gloriole umgeben, die das provinzle- risch gewordene Wien in vielen Dingen noch nicht wieder voll recht- fertigt — wenn man es aus nachster Nahe kennt.

DIE VOLKER SUDSLA WIENS haben sich in den vier Jahrzehnten seines Bestehens scheinbar einigermafien amalgamiert, wenn auch die Kroaten — die es in ihrer konstruktiven und energischen Art verstehen lassen, dafi sie einst der alten Armee mit die besten Soldaten gaben — gelegentlich uber die Serben losziehen und umge- kehrt, und beide zusammen kein Hehl daraus machen, dafi sie von den fleifii- gen und sparsamen Slowenen — deren Sprache sie kaum verstehen, so dafi sie die Speisekarten in Laibach nicht seiten an Hand der deutschen tlber- setzung studieren — und von den ellbogenbegabten Dalmatinern — die der Sage nach ins „Ausland”, nord- lich des Velebit, mit Vorliebe dann gehen, wenn sie staatlicher Direktor werden konnen — ebenso keine iiber- ragende Meinung haben wie von den dunkelhautigen Montenegrinern, die sich gerne unter Amtskappeln betati- gen, etwa so, wie die Meridional!, von Neapel abwiirts, das dekorative Amt der Karabinieri in ganz Italien als ihr eigenstes Reservat betrachteii.

Im grofien Durchschnitt haben die Leute im Lebenshaltungsniveau gewifi Fortschritte gemacht, wobei allerdings der Sprung im Lebensstandard gegen- iiber dem Westen noch heute etwa so grofi ist, wie der Unterschied zwi-

sehen Wien und Zurich vor zehn Jah- ren. Auf dem Niveau jener Jahre — soferne man sich als Wirtschafts- wunderkind iiberhaupt noch daran er- innert — halten die jugoslawischen Geschaftsauslagen, besonders die kleineren, auch heute noch zum Teil, wenngleich es auch reichbeschickte und mit Geschmack dekorierte Schau- fenster gibt, etwa mit Elektrogeraten zu relativ billigen, mit Textilien zu eher teuren Preisen, mit schbnen Lederwaren und astronomisch teuren mechanischen und optischen Erzeug- nissen, nebst vielen Proben einer lebendigen und bodenstandigen Volks- kunst.

GROSSE SPRUNGE konnen die meisten sicher nicht machen, wenn man auch den Eindruck eines langsam, aber doch steigenden Standards hat. Die Wohnkultur ist eher bescheiden, obwohl in den Stadten viel gebaut wird, nicht nur Hotels, Schulen und Krankenhauser, sondern auch Wohn- viertel, wie das auf Corbusiersche Stelzen gestellte Agramer Hochhaus- viertel an der Save, rund um den Glas- block der neuen Stadtverwaltung, zu dem so mancher Emmentaler-Stil- Architekt unserer Breiten um An- regungen pilgern konnte, oder wie der Wolkenkratzer auf dem Agramer Jellacicplatz, der mit sichtlichem Stolz nachts angestrahlt wird und der, neben den Doppeltiirmen des Dorns, dem anheimelnden Bild von Agram, vor der Silhouette des Sljeme, einen neuen Akzent verleiht.

DAS LAND UM DIE SAVE hat sich als eine Insel altbsterreichischen Pha- akentums erhalten, die ein gutiger Zauberer davor bewahrt hat, bisher ebenso nervos und hastig zu werden wie die verwandten Geiger und Tan- zer zwischen Anninger und Bisamberg. Wer es sich halbwegs leisten kann, versteht es noch, das Leben gelassen in altvaterlicher Art zu geniepen, mit einer Tafel, die sich unter Menge und Qualitat des Dargebotenen biegen muB — Kavalier sein ist alles —, und ein guter Zigeunerprimas oder Sedvah- Sanger verdient Stargagen, auch nach westlichem Mafistab. Obwohl die An- schaffung eines grbBeren Kleidungs- stiickes ein wirtschaftliches Problem darstellt, sind viele Stadter gut ge- kleidet, und obwohl ein Fiat 600, von „Zastava” assembliert, 30 Monats- gagen eines hbheren Beamten kostet, sind mehr davon in Privatbesitz, als man glauben sollte. Zum Teil ist das tagliche Leben fiir den Landeskundi- gen ganz erschwinglich, alle haben nahrhafte Beziehungen zum Land, und auf dem reichbeschickten Markt von Agram kostet ein Huhn, von einer pluderhosigen Mohammedanerin aus Bosnisch Brod gekauft, 200 Dinar oder ein Prozent des Monatsverdienstes eines besseren Arbeiters.

AuBerdem arrangieren sich die Leute ganz meisterlich, man lebt nicht umsonst auf dem Balkan. Es kursiert das SpaBwort, dies sei das einzige Land der Welt, wohin Verwandte aus dem Ausland nicht etwa Schokolade als Geschenk schicken, sondern gleich ganze Autos. Durch welche gehe’im- nisvollen Kanale eines Privat-Clearings das funktioniert, will keiner wissen, und es wird auch so lange weiter- gehen, als Kurse, Preise und Einfuhren kiinstlich gesteuert werden.

DIE NEUE KLASSE stellt ihren Le- bensstandard ungehemmt zur Schau. In den Konzertcafes der groBen Stadte — sie sind immer noch sehr en vogue, im Stil der RingstraBencafes von 1914, mit Salonorchestern, die unermiidlich Lehar und Kalman produzieren — fin- det man zu. den Hauptzeiten ebenso schwer Platz wie in den Restaurants mit ihren langen Meniikarten nach Wiener Gaumen. In den Zentren der Stadte, etwa der Belgrader Terazije oder der Agramer Ilica, drangen sich zu alien Tagesstunden Menschen- mengen, deren Hang zum Leben in der Offentlichkeit gerade proportional zur Annaherung an den Orient wachst, vorbei an einigen Nobelgeschaften mit ftanzosischen, italienischen und engli- schen Stoffen, deren Meterpreise dem Monatsverdienst eines durchschnitt- lichen Arbeiters nahekommen. Man sieht zur Zeit des Abendkorsos viele gut gekleidete Herren, unter denen man die Serben an ihren Schnauz- barten a la Guareschi erkennt, schbne Frauen in etwas provinzlerischer Ele- ganz. und eine Jeunesse doree, die mit Rohrlhosen und Vorliebe fiir ameri- kanischen Jazz hemmungslos westlichen Stil kopiert.

In vielen Dingen hat das Land den alten Lebensstil aber noch bewahrt. In Sarajewo ist noch der tiirkische Basar, die Baschtscharschija, in vollem Betrieb, wo die Kupfcrschmiede und Ziseleure in ihren winzigen, voll- gestopften Ladchen nach orientalischer Art hocken und die Manner stunden- lang vor der Kavana bei einem Kupfer- kannehen „Turkischen” sitzen, die Backer bereiten nach Uralten Methoden in aller Offentlichkeit ihre orientalischen Siifiigkeiten, in die engen Hofe der Karavanserajs, mit ihren Brunnen und holzvergitterten Fenstern, kehren noch heute die Wanderer mit ihren Packeseln ein, noch bestehen die tiirkischen Fried- hdfe mit ihren windschiefen Grab- saulen und noch funktioniert der Vakuf, die religiose Verwaltung alter, wohltatiger Stiftungen von langstver- gangenen Begs und Paschas mit sagen- haften Namen.

In den Restaurants werden die Chauffeure der neuen Herren nicht am gleichen Tisch wie ihre Chefs be-

dient, wie es weiter westlich iiblich ist, wenn man gemeinsam reist; die Zigeuner, die zum Essen aufspielen, bekommen nach alter Art die Geld- scheine in die Geigenbogen gesteckt und begleiten zum SchluB die Gaste fiedelnd und buckelnd zum Auto.

Noch findet man viele Landleute in schonen, alten Kostiimen, und weder der serbische Bauer in seinen weit- bodigen Reithosen und Opanken noch der Dalmatiner in seitier - gistickfen Jacke und flachen, roteh Mtitze fallt in der westlich gekleideten Menge der Stadter besonders auf. Die folkloristi- sche Tradition wird eifrig gepflegt, es gibt gute Volkstanzgruppen alfent- halben, die zum Teil, wie etwa die „Lado”, kiinstlerisches Niveau haben, und Volksmusik, mit Hirtenfloten und Harmonika, dudelt standig, neben italienischen Schlagern, aus dem Radio.

Auch ist es dem Regime an- scheinend nicht gelungen, das religiose Leben zuriickzudrangen. Priester und Nonnen in ihrem Habit gehoren ebenso zum Agramer . Alltag, wie Mullahs mit dem weiBen und fromme Hadjis mit dem griinen Turban zu jenem von Sarajewo. Der Muezzin ruft noch heute von den bblzernen Mina- rettes der bosnischen Dorfer und von einigen — nicht alien — der 99 Mina- rettes von Sarajewo fiinfmal am Tage sein „Allah il Allah”. In den stark besuchten katholischen und ortho- doxen Gottesdiensten sieht man auch Manner und jiingere Leute, und wenn von der schonen Huzrevbegova- Moschee in Sarajewo zum Gebet ge- rufen wird, versammeln sich regel- mafiig zahlreiche Manner, sichtlich eben von ihrer jeweiligen Tatigkeit weggeeilt, vollziehen biasend und schneuzend ihre rituellen Waschungen an dem silbrig springenden, schonen Sehmiedeeisenbruniien im Hof tind gehen dann, die Schuhe in der Hand (soferne sie schon und neu sind), In die Moschee. Im Zagreber Oberland, dem Zagorje, wo Tito herstammt, etwa in Sestine oder Remetine, kom- men zur Sonntagsmesse noch die Frauen in ihren plissierten Rocken, mit einem Dutzend gestarkter Unter- rocke, in ihren gestickten Jacken und Banderhauben, und bieten ein male- risches Bild, wenn sie sich unter den alten Buchen vor den Kirchen versammeln.

EINE KONSOLIDIERUNG DES REGIMES ist nicht zu verkennen, teils wohl aus dem Gefiihl heraus, daB der Lebensstandard doch ansteigt, was auch mit einer Prise Resignation ver- mischt sein mag. Tito sieht nicht wie ein Diktator, der sich zu fiirchten braucht, aus, wenn er — nicht etwa in einer kugelsicheren ZIS-Limousine, sondern im offenen Wagen — durch das Land fiihrt, als ob er sich nicht in der impulsiven Heimat Gavrilo Prin- cips befande. Man ist sich dariiber klar, daB es vor allem sein personlicher EinfluB ist, der die Anhanger einer harteren” Gangart am Ziigel halt, und fragt sich nicht ohne Besorgnis was nach ihm kommen wird. Der Jugo- slawe von heute kann es sich leisten, gepfefferte politische Witze zu kol- portieren. wenngleich man sich natiir- lich hiitet. den Kopf allzu weit in den kalten Wind hinauszustrecken. Lind solange man es vermeidet, der UDBA, der politischen Polizei, aufzufalien, wird man in Ruhe gelassen. In Kroatien kursiert aber doch der Witz, die Agramer Petrinska Ulica sei die langste StraBe der Welt: wer hinein- geht, kommt fruhestens in einigen Jahren wieder heraus. In der Petrinska ist namlich das Hauptquartier der UDBA. Immerhin . aber, man erzahlt solche Witze. ohne sich zuerst umzu- sehen, wer hinter einem steht.

Nicht ohne das Gefiihl einer ge- wissen Erleichterung sieht der Wanderer — Koalition hin, Proporz her — den rotweifiroten Grenzschranken wieder vor sich, unter den prufenden Augen des jugosjawischen Grenzers, der darauf besteht, das zuriickgefiihrte Geld unbedingt eigenhandig nach- zahlen zu wollen. Ein — wohl etwas gezahmter — roter Bar. Aber ein roter Bar ist er doch.

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