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Neues Martin-Oratorium und „Der Gefangene“

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Das wichtigste musikalische Ereignis nicht nur dieser Weihnachtswoche, sondern wahrscheinlich auch des abgelaufenen Jahres, war die Uraufführung des abendfüllenden Oratoriums „Le Mystere de la Nativite“ von Frank Martin auf einen spätmittelalterlichen Text des Arnoul Greban. — Dieses typische Mysterienspiel wurde seinerzeit an vier Spieltagen vorgeführt und umgreift Himmel, Erde und Hölle. Frank Martin, wie immer sein eigener Textgestalter, wählte einige hundert Verse aus dem Vorspiel und dem ersten Spieltag: von der Klage der gottverlassenen Menschheit über die Verkündigung und Geburt Christi bis zur Darstellung im Tempel. — Die Uraufführung des imposanten Werkes fand in der Victoria-Hall zu Genf statt und wurde von zahlreichen Radiostationen, von Israel bis zum Sender der DDR, übernommen. Ernest Ansermet dirigierte den Riesenapparat, bestehend aus neun Solisten, großem Instrumentalensemble (Orchestre de la Suisse Romande), einem Choeur des leunes und dem Motet de Geneve. Wegen seiner Bedeutung und weil „Le Mystere de la Nativite“ bei den Salzburger Festspielen 1960 seine szenische Uraufführung erleben soll, werden wir dem Werk eine unserer nächsten Kunstsonderseiten widmen.

In der Staatsoper wurde Glucks „Orpheus und Eurydike“ in der Inszenierung Oscar Fritz Schuhs aufgeführt. Sein Stil und der Caspar N e h e r s, der die Bühnenbilder und Kostüme schuf (drehbare Wandtafeln, Kreise an der Decke und auf der ansteigenden Bühne, barock stilisierte antike Kostüme, alles in gedämpften Farben), sind aus früheren Inszenierungen so bekannt, daß sie kaum mehr einer Beschreibung bedürfen. K a r a j a n, der im Sommer auch die Salzburger Aufführung geleitet hat, konnte sich nicht nur als Dirigent, sondern auch als Klangregisseur betätigen, mit Lautsprechern, Verstärkern und Fernorchester. Das klappte alles vorzüglich, nur hatten zwei von den drei Solostimmen (Giulietta Simionato als Orpheus, Anneliese Rothenberger — Eros und Wilma Lipp — Eurydike) manchmal Mühe, sich gegen diesen Apparat durchzusetzen. Gegeben wurde die italienische Fassung (in italienischer Sprache) mit dem französischen Ballettschluß. Diese letzten Minuten waren die unterhaltsamsten des ganzen Abends (Choreographie: Dimitrie Parlic, dem zu den Hades- und Elysiumtänzen nicht viel Originelles eingefallen ist). Im ganzen: eine Nobelaufführung ohne besondere Kennzeichen. *

Luigi Dallapiccola (Jahrgang 1904) fand den historischen Rahmen für seinen Einakter „Der G e-f a n g e n e“ bei De Coster und in einer Erzählung des Villiers de l'Isle Adam mit dem Titel „Folter durch Hoffnung“. Dies ist auch der eigentliche Gegenstand des „Prigioniero“, der trotz seines historischen Kostüms ein Gegenwartswerk ist, erfüllt mit dem Leidenspathos unserer Zeit. Die Handlung spielt in den unterirdischen Kerkern von Zaragossa zur Zeit des niederländischen Freiheitskampfes. Um einem Gefangenen mit der enttäuschten Hoffnung den letzten moralischen Halt zu rauben, wird ihm seine Befreiung vorgespiegelt. Dem Stoff und der Stimmung entspricht eine stets den intensivsten Ausdruck anstrebende Musik. Die Folge dramatisch-bewegter Monologe und Zwiegespräche wird durch chorische Zwischenspiele unterbrochen; der komplizierte Orchesterpart ist sehr farbig und hat eigenes Leben. Aehnlich wie in Alban Bergs „Wozzeck“ verglühen die kunstvollen Konstruktionselemente (drei Zwölftonreihen, Ricercari und Choräle) im Feuer des stets wechselnden, aber immer aufs äußerste gespannten Ausdrucks. Unter der Leitung von Hans Swarowsky sangen Hilde Konetzni, Anton Dermota und Kostas Paskalis die drei Hauptpartien der.. Mutter, des Kerkermeisters (und Großinquisitors, in einer Person) sowie des Titelhelden. — Der große Chor der Singakademie wurde von den Symphonikern begleitet, die sich auch in den feingearbeiteten, klanglich differenzierten und gehaltvollen „E s p r e s-sione Orchestrale“, op. 10, des in Wien lebenden Engländers Francis B u r t (Jahrgang 1926) auszeichneten. — Darnach wirkten Hindemiths „Symphonische Metamorphosen“ über Themen von Carl Maria von Weber recht robust, und wie aus einer anderen Welt.

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