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Neuislam und ,heimatlose Linke'

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Si El Hadj Mustapha gibt mit giftigem Blick den Eingang frei ins Innere der Koubba. Der finstere Mann ist Chef der Zaouia Rahmania von El Hamel, nicht weit von der Oase Bousaada, dem ehemaligen französischen Kolonialtouristenzentrum, rund 300 Kilometer südlich von Algier. Die „Koubba“ — Grabkuppel — birgt den Sharkophag eines mohammedanischen Heiligen, des „Marabouts“ Sidi Mohammed Ben Belkassem. Wie der Sarkophag aussieht, weiß niemand mehr; Jahr für Jahr schichten Pilger aus der südlichen Sahara Grabgeschenke in Form selbstgewebter Decken und Tücher auf den Toten, deren unterste inzwischen zu Fetzen zerfielen und Modergeruch verbreiten. Fünf Pilgerfahrten nach El Hamel gelten einer Pilgerfahrt nach Mekka gleich. Die Pilger wie um ihren reibungslosen Zugang zu Allahs siebenten Himmel besorgte wohlhabende Wüstenscheiks haben der Zaouia (was soviel heißt wie Grabhüterbruderschaft) ein ansehnliches Vermögen zusammengetragen. Die Bruderschaft ist zugleich Stiftung, Waisenhaus und Koranschule. Flach liegt die in die Sandsteinrinde eines Riesengrabens geklebte beträchtliche Ansammlung weiß getünchter Lehmbauten im trunken machenden Licht der algerischen Sonne, von dem der französische Schriftsteller Camus einmal sagte, daß es die Landschaft in Schwarz tauche. Über den Hof vor der Koubba, deren byzantinische Wölbung die Anlage beherrscht, tönt das monotone Gerassel koranlesender Waisen.

Gewerkschaftsheime in der Wüste

Der Hadj Mustapha hatte sich von der Unabhängigkeit Algeriens auch das Ende der „fortgesetzten Entweihung“ des von ihm behüteten Heiligtums durch Besuche Ungläubiger versprochen. Das französische Touring-Büro von Bousaada hatte ihn einst zu dieser Toleranz gezwungen und die Besichtigung der Zaouia in die Stan-dardreiseroute für Bousaada-Touristen einbezogen. Der uns begleitende Beamtedes .'Ministeriums für Jugend, Sport, und Tourismus der neuen „demokratischen Volksrepublik“ Algerien hatte von der Erneuerung seines Landes eine andere Meinung: „Der Marabout-Kult hat mit dem Islam gar nichts zu tun. Das sind Stammesmar rotten. Die Franzosen haben das gefördert, um sich als Beschützer der Stämme gegen .arabische Überfremdung' aufzuspielen. Trotz ihrer Xenophobie waren die Marabout-Priester Verbündete der Kolonialherren, wenigsten auf höherer Ebene. Wird alles verschwinden.“

Der Ministerialbeamte inspiziert die Möglichkeiten des geplanten künftigen „Volkstourismus“, Algerien will die geballte Kaufkraft des westeuropäischen Arbeiter- und Angestelltenvolks auf sich ziehen, wenigsten deren Massen-ferienbudgets. Im nahen Bousaada sollen Heime für erholungsbedürftige Fabrikarbeiter und Kumpels, von ihren Gewerkschaften finanziert, erstehen, eine Luftbrücke Westeuropas verräucherte Industriebecken mit der algerischen Oase verbinden. „Eure Leute müssen hier eine neue Atmosphäre vorfinden. Der Volkstourismus wird nichts mehr mit .kolonialistischer' Romantik gemein haben. Auch das da wird verschwinden.“ Man hatte uns zum örtlichen Handelssyndikat mit Souvenirs geführt, jenen berühmten Souvenirs, auf denen „der Staub von sieben Jahren Krieg und der Unabhängigkeit liegt“, wie Pariser Blätter dem Bousaada alter Zeiten nachtrauern. Daß sich auch Europas erwartete „Volkstouristen“ von Nordafrika einige „Kolonialromantik“ versprechen, vermerken wir am Rande. „Der reine Islam ist nicht finster, kurios oder zweideutig, er ist frei von Grabgötzen“, ereifert sich der Mann — die Bemerkung galt dem inspizierenden Marabout in seiner Moderkuppel —, „wir werden unsere Religion zum moralischen Prinzip machen, sie von der Lethargie befreien, zum Nationalgefühl umgestalten, das zur Arbeit verpflichtet. Eine Nation muß man mit etwas Geistigem bauen. Der Westen hatte dazu die bürgerliche Demokratie und das Unternehmertum, die Russen ihren .Marxismus plus Elektrizität', wir die Bauernkommune mit Traktor .plus' Vergeistigtem Islam.“

Algeriens neue Herren verfielen — wie einst die benachbarten Marokkaner und Tunesier — der Erneuerungsmanie. Die Nachbarländer sind indessen längst in den alten Trott zurückgefallen. In Rabat und Tunis wollte man das Neue mit Großeinkauf ausländischer technischer „Kader“ machen, wie man hier alles einigermaßen Organisationsbegabte nennt. Algier legt freilich mehr Gewicht auf die „geistige Erneuerung“, neue Ideen und möglichst unklassische Methoden.

Import von Pariser Intellektuellen

Aber auch dieser Ansatz braucht „Kader“, eben geistige. Die breite Masse hat von der Revolution entweder utopische oder gar keine, nur wenige, in den sogenannten ehemaligen Grenzarmeen der Aufständischen Geschulte haben eine Art von geistiger Vorstellung. Was Algier an „neuem Geist“ heute produziert, ist die Arbeit dieser kleinen Elite und einer Gruppe europäischer Idealisten, darunter vorwiegend ehemalige Pariser Linksintellektueller, welche, der fruchtlosen Auseinandersetzung mit de Gaulles Prijsidialregime müde, die Verwirklichung ihrer Träume von der „neuen Gesellschaft“ in Algier suchen, Elemente, die in Deutschland als „heimatlose Linke“ bezeichnet werden.

Sie lösten die in Massen aus Algerien geflüchteten Rechtsextremisten und Colons ab. Einige von ihnen nahmen die algerische Nationalität an, manche traten sogar zum „vergeistigten Islam“ über. Der Verfasser des berühmten „Lohn der Angst“, George Arnaud, der von Stalins Planwirtschaftssystem faszinierte Wirtschaftstheoretiker Charles Bettelheim und der ehemalige Starzeichner des Pariser

Linksintellektuellenblattes , .Expres“, Sin6 montierten die ersten Ausgaben des algerischen staatsideologischen Wochenorgans „La Revolution Africaine“. Der französische Kommunist Henri Alleg formt mit seinem Massenblatt „Le Republicain d'Alger“ einen beträchtlichen Teil der öffentlichen Meinung, freilich weniger im Sinne der regierenden Benbella-Gfuppe als der Parti socialiste revolutionäre des ins Exil gegangenen Benbella-Feindes Boudiaf. Dafür übernahm der aus der Pariser russischen Emigration stammende Serge Michel, welcher seine afrikanische Laufbahn vor drei Jahren als Informationschef des ermordeten kongolesischen Revolutionärs Lumum-ba begann, die Redaktion der benbelli-stischen Tageszeitung „AI Chaab“. Die algerischen Revolutionäre betrachten diese europäische Geisteshilfe mit gemischten Gefühlen. Sie sehen sich durch die berühmten Namen geehrt, erkennen anderseits, daß die oft snobistischen Pariser Linkszirkel keinesfalls eine algerische Realität vertreten. Stalins Formel: Fachwissen kann man nicht mieten, die Ideologie muß aber authentisch sein, haben sie noch nicht verwirklicht.

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