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New York und seine Minderheit

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Als Voraussetzungen für den Beruf eines Übersetzers gelten viele Tugenden, vor allem Bescheidenheit. Ein reiches Sortiment von Menschen nennt sich Übersetzer: viele leben hauptberuflich davon, unzählige Schriftsteller, Journalisten, Pensionisten und weiß Gott wer alles erblik-ken darin eine Gelegenheitsarbeit, und wer wen des Pfusches bezichtigen darf, wird am Jüngsten Tag entschieden werden. Indessen soll vermerkt werden, daß die Verantwortimg eines Übersetzers eine große ist, bedenkt man nur die simple Tatsache, daß der fremdsprachige Autor einem breiten Publikum nur in der Gestalt der sprachlichen Übertragung bekannt werden und von ihm beurteilt werden kann. Man könnte von Aufträgen erzählen, die von historischen Werken über Musik bis zu Kochbüchern reichen, die ihren Übersetzern tagelange Arbeit in Bibliotheken verursacht haben, um nur die ärgsten Schlampereien in den Werken hochpiominenter Verfasser zu eliminieren; aber auch von Manuskripten, die ihrer Mangelhaftigkeit wegen nicht die geringste Chance hatten, das Licht der Welt zu erblicken, und erst dann, nachdem der Übersetzer einen ausgedehnten Nahkampf bestanden hatte, in der neuen Version erscheinen konnten. An dem Tag konnte sich der Verfasser einen Schriftsteller nennen. Im Endprodukt, im winzigsten Druck, der dem Setzer zur Verfügung stand, und an unauffallendster Stelle stand dann der Name des Übersetzers. Aber mancherorts weht ein neuer Wind. Als Beweis dafür: auf der Titelseite dieses Romans vom weltbekannten Schriftsteller James Baldwin steht in gleicher Größe der Name des Übersetzers.

Ein Verzeichnis der Ausdrücke, die im Hafenviertel Sankt Pauli geläufig sind, wird Herr Wollschläger wohl besorgt haben müssen, doch liegt sein Verdienst darin, den Roman eines Autors ins Deutsche übertragen zu haben, der das Stadium der rohen Publizistik in Sachen der Rassenfrage längst hinter sich gebracht hat. Oder wo steht James Baldwin wirklich? Während man dieses grauenvolle Bild der Stadt New York in sich aufnimmt fragt man sich immer wieder: kann er auch weiße Menschen in ihrem innersten Wesen erkennen? Die Frage stellt sich von selbst, wenn Baldwin einen geradezu selbstmörderischen Schachzug macht, indem er seine (schwarze) Hauptfigur nach dramatischer Steigerung schon auf Seite 99 umbringt, die weiße Partnerin, eine Figur, aus der noch viel mehr herauszuholen gewesen wäre, ebenfalls kurzerhand aus dem Buch hinauswirft, um sich dem weißen Bekanntenkreis zuzuwenden. Allerdings ist Baldwin mit diesem toten Jazzmusiker Rufus Scott noch lange nicht fertig, an ihm werden sich noch in irgendeiner Weise alle Gestalten des Romans messen müssen. Die Frage nach der schöpferischen Kraft Baldwins scheint aber zum Teil damit beantwortet zu sein, daß er Minderheitenkomplexe — welcher Art immer — zu ergründen imstande ist. Wenn seine Menschen mit verzweifelt-wachter Intelligenz der seelischen Bedrohung, die vom Existenzkampf in New York ausgeht, bewußt ausgesetzt sind, gehören sie, auch wenn sie in einer weißen Haut stecken, einer schutzlosen Minderheit an. Von je einer Person.

Unter den Beziehungen einzelner Menschen zueinander erlaubt James

Baldwin eine Uberwindung desolater Einsamkeit, allenfalls einen Hoffnungsschimmer. Nicht aber für die menschliehe Gesellschaft der Großstadt. „Hoffnung?“ antwortet Cass auf die Frage ihres Freundes: „Nein, ich glaube nicht, daß es noch Hoffnung gibt. Es ist zu leer hier... Wir meinen, wir wären glücklich. Wir sind's nicht. Wir sind gerichtet!“

EINE ANDERE WELT, Roman von James Baldwin. Deutsch von Hans Wollschläger. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg, 455 Seiten, DM 14.80.

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