Nicht begabt fürs Glück

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"Zwei Leben und ein Tag" von Anna Mitgutsch: ein feinsinniger Roman über Liebe, Schuld und Fremdheit.

Der Hudson River als Ort des Gemeinsamen. Dieses mächtige Gemälde, schlammgrau, dann wieder mit geriffelter Oberfläche, spinnwebenleicht gemustert, bis sich die riesigen Wassermassen in ihrem weiten Bett langsam zum Meer hin öffnen und mit dem Atlantik vermischen. Die Sehnsüchte und Gedanken der Romanfiguren kehren oft zu diesem Fluss zurück, der sich fremd zeigt, weil er auf der Durchreise ist. Entlang seiner steinigen und bewaldeten Ufer blühen die Erinnerungen, er ist "Elixier" und Regulator eines Lebens zwischen "Ebbe und Flut". Mit der metaphorisch dichten und breit angelegten Schilderung dieses Flusses setzt die oberösterreichische Autorin Anna Mitgutsch gleich zu Beginn ihres neuen Romans eine schöne Geste.

Komplexe Struktur

In diesem Buch geht es zunächst einmal um ein Paar, das sich auseinandergelebt hat, aber trotz der Trennung nicht ganz voneinander lassen kann. Diese Beziehungsgeschichte wiederum ist aufgehoben in einer weiteren Geschichte, nämlich in der Auseinandersetzung mit der Biografie des amerikanischen Schriftstellers Herman Melville. Bereits in ihrem letzten Roman Familienfest jongliert Mitgutsch kunstvoll mit einer komplexen Erzählstruktur, die sich auf mehreren Ebenen abspielt. Und das ist auch diesmal so.

Da ist also Edith, deren Ehe mit Leonard zerbrochen ist. Nach einem glücklosen Leben im Fernen Osten und in Osteuropa, wohin sie ihren Mann begleitet hat, ist sie nach Österreich in ihre Heimat, zum Ort ihrer Kindheit, zurückgekehrt. Eine Bambustruhe aus Seoul begleitet sie als einziges Möbelstück aus dieser Zeit, gefüllt mit alten Karten, die sie angeregt durch ihren Sohn Gabriel zu studieren begonnen hat. Hier im Haus ihrer Großmutter schreibt sie Leonard Briefe, ohne sie jemals abzuschicken.

Diese Briefe verdichten sich zu einem Suchprozess, zu einer feinfühligen Kartografie der Seele, zur Reflexion ihrer Beziehung, ihrer Liebe und der Matrix ihres Scheiterns. Mitgutsch interessieren dabei vor allem auch psychische Verletzungen, die über den Rand hinaustreten und sich sukzessive einschleichen, weil Verwurzelung und Anker fehlen. Präzise positioniert sie die Motive der Unbehaustheit und des Nichtdazugehörens als roten Faden, an den ihre Figuren gebunden sind. Fremdheit wirkt in ihre Beziehungen hinein fort: "Aus dieser Zeit konnten wir nichts unversehrt retten. Es scheint, als seien wir einfach nicht begabt gewesen für das Glück. Wir waren drei vom Leben überforderte Menschen, zu klein für das Ausmaß an Enttäuschungen und Schicksalsschlägen, das uns zugeteilt war, und zu sehr mit uns selber beschäftigt, um sie zu verstehen." Das Vertraute hinter sich zu lassen, das Aroma der Fremdheit zu schmecken und gleichzeitig Toleranz zu üben, sind für beide ständige Herausforderungen. Zuletzt stehen Schuld, Liebe und die Unfähigkeit des Verzeihens als unverrückbare Blöcke zwischen ihnen.

Zu dieser Beziehungstopografie gehört in besonderer Weise auch das Schicksal ihres gemeinsamen Sohnes Gabriel. Er ist seit einem Fieber in der Kindheit anders als die anderen und kommt mit den Anforderungen der Gesellschaft nicht zurecht. Mitgutsch konzipiert Gabriel als "unschuldige" Gegenfigur, als Figur mit einem anderen Blick auf die Umgebung. Gerade deshalb wird er auch zur Belastungsprobe ihrer Ehe. Einmal heißt es: "Sein Verstand hat die Regeln der Welt noch nicht begriffen, und trotzdem erfasst er Stimmungen, die Atmosphäre von Orten, Landschaften, auch von Menschen durch eine unmittelbarere Einfühlung als wir. Wie ein Resonanzraum bringt ihn die geringste Erschütterung zum Vibrieren, als gäbe es keine klare Trennung zwischen ihm und dem, was außerhalb von ihm ist, als wäre er ein Gefäß, vollendet in seiner Form … ein weißes Blatt, auf dem andere schreiben." Gabriel hat zu Orten und Dingen mehr Vertrauen als zu den Menschen und entwickelt gewissermaßen "Luftwurzeln", um sich aus dem komplexen menschlichen Beziehungsgeflecht zu lösen.

Melville, der Ruhelose

Großen Raum in diesen Reflexionen nehmen die profund recherchierten Lebensspuren Herman Melvilles ein, der für Edith und Leonard "Anachronismus" in ihrem Leben, Ankerplatz und immer mehr ein Schlüssel zum Verstehen, zur Enträtselung ihrer eigenen Geschichte wird. Fast so, als wollte man sich "an der Glut eines fremden Lebens wärmen". Melville, der Autor des Moby Dick, weigert sich, sich in die Gesellschaft einzufügen und passt schon gar nicht in den literarischen Handlungsrahmen seiner Zeit. In seiner Biografie spiegelt Mitgutsch das Schicksal ihrer Figuren. Melville, der Ruhelose, dessen Leben zwischen den beiden Polen der "Radikalität des Aufbruchs" und der "Ambivalenz der Heimkehr" ausgespannt ist, seine Fragen an das Schicksal und die Welt lassen sie beide bis zum Schluss nicht mehr los.

Spannung bis zum Schluss

Eine dritte Erzählebene durchbricht schließlich diese Briefe mit einem scharfen Schnitt: die sukzessive Einblendung eines einzigen Tages aus dem Leben Gabriels nach dem Tod seiner Mutter. Ihr ehemaliger Freund besetzt Gabriels Haus. Diese Demütigung nimmt er in kafkaesker Weise geradezu selbstverständlich hin, indem er aufbricht und auf der Reise zu seinem Vater in die Fänge einer Drogenbande gerät. Mit großer Souveränität zeichnet Mitgutsch das Porträt Gabriels, der von vornherein der Welt ausgeliefert ist. Eine Vorahnung sagt ihm bereits, dass er "in einem unaufmerksamen Augenblick den Schritt über den Rand tun würde", als die Brutalität des Lebens erbarmungslos über ihn hereinbricht.

Mitgutsch gelingt es, die innere Spannung bis zum Schluss aufrecht zu erhalten. Der Bogen vom Leben zum Tod umspannt das gesamte Geschehen, also alle Erzählebenen, als dünne Folie. Mit einem beeindruckenden Crossover von poetischen Bildern, Erinnerungen oder manchmal fast philosophisch anmutenden Gedanken zum Begreifen der Welt unterstreicht Mitgutsch die atmosphärische Dichte. Man hat hier eine Reflexionsreise vor sich, die Tiefe birgt und sich mit der Intensität poetischer Kraft verlinkt.

Zwei Leben und ein Tag

Roman von Anna Mitgutsch

Luchterhand Literaturverlag, München 2007 352 Seiten, geb., € 20,60

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