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Nicht Rücken an Rücken, sondern Seite an Seite

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Nur scheinbar war es ein Zufall, daß man gleichzeitig in einer deutschen und einer österreichischen Redaktion übereinkam, die Jahreswende zu einem Gedankenaustausch über den Stand der deutsch-österreichischen Beziehungen zu benutzen. Die Briefe kreuzten sich, in denen man sich gegenseitig den Vorschlag machte: die „österreichische Furche“ der Stuttgarter Wochenzeitung „Christ und Welt“ und umgekehrt. Auch darin mag eine innere Logik liegen, daß hier ein im katholischen Bereich angesehenes Blatt und dort eines der führenden Organe des deutschen Protestantismus das Bedürfnis hatten, miteinander zu Neujahr Grüße und Meinungen auszutauschen. Zum Gefühl der deutsch-österreichischen Verbundenheit gesellte sich, das einer gesamtchristlichen Verpflichtung. Wir bringen im folgenden unsere Betrachtungen und fügen ihnen den Beitrag an, den uns gleichzeitig „Christ und Welt“ übermittelte. „Die österreichische Furche“

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Nur scheinbar war es ein Zufall, daß man gleichzeitig in einer deutschen und einer österreichischen Redaktion übereinkam, die Jahreswende zu einem Gedankenaustausch über den Stand der deutsch-österreichischen Beziehungen zu benutzen. Die Briefe kreuzten sich, in denen man sich gegenseitig den Vorschlag machte: die „österreichische Furche“ der Stuttgarter Wochenzeitung „Christ und Welt“ und umgekehrt. Auch darin mag eine innere Logik liegen, daß hier ein im katholischen Bereich angesehenes Blatt und dort eines der führenden Organe des deutschen Protestantismus das Bedürfnis hatten, miteinander zu Neujahr Grüße und Meinungen auszutauschen. Zum Gefühl der deutsch-österreichischen Verbundenheit gesellte sich, das einer gesamtchristlichen Verpflichtung. Wir bringen im folgenden unsere Betrachtungen und fügen ihnen den Beitrag an, den uns gleichzeitig „Christ und Welt“ übermittelte. „Die österreichische Furche“

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Wünsche zum Jahres wechselt Gratula- j tionskarten, Telegramme, Adressen, Proklamationen. Draht, Luft, Leinwand, Papier: die Mittel, die Überbringer. Glückwünsche — Formalitäten, Formsachen.

Dann gibt es andere Wünsche: von Mensch zu Mensch, von Mann zu Mann, von Herz zu Herz. Wünsche also, die im Schweigen beheimatet und geborgen sind, die sich jeder Publikation verweigern.

Und dann sind dritte Wünsche, von Gemeinschaft zu Gemeinschaft, von Volk zu Volk. Notwendig bedienen sie sich aller öffentlichen Mittel (Draht, Luft, Leinwand, Papier) und sind so stets der Gefahr ausgesetzt, in dieser Mittellage zu vergehen: zwischen Höflichkeit und Freundlichkeit, zwischen Wort und Phrase, zwischen Diplomatie und Begegnung, zwischen Sein und Schein.

Wenn wir uns dieser Gefahr bewußt sind, dann kann unser österreichischer Glückwunsch an unsere deutschen Freunde zum Jahreswechsel nur eines bedeuten: die Annahme einer Verpflichtung. Einer Verpflichtung, dem Freunde und sich selbst die Wahrheit zu sagen. In der guten Hoffnung, daß er und daß wir diese Wahrheit vertragen. Wer die Wahrheit verträgt und trägt, der hat Zukunft. Was aber braucht ein Volk mehr als den Atem zur Zukunft, dieses Getrostsein in der Wahrheit, dieses gute Trauen, daß in ihr und in ihr allein, alle Fehler, alle Schwächen, ja selbst alle Untiefen des Nationalwesens geborgen und erlöst werden?

Nehmen wir also unser Marschgepäck auf uns. Zwei Völker, zwei Schicksale, die einander oft begegnet, einander oft getroffen haben. Unsere Gesichter, unsere Hände und unsere Herzen sind, hüben und drüben, gezeichnet vom Lebensweg, der in Schuld und Begnadung uns zuteil wurde. Die Völker Europas, und wir mitten unter ihnen, haben heute diese schöne, große Chance: das Experiment ihres geschichtlichen Weges zu prüfen, sein Suchen und seine Versuchungen nüchtern und redlich zu begreifen, sich um seine Gifte und Gaben gleichermaßen zu sorgen.

Für uns hier in Österreich heißt das: nichts ist uns heute so feind, so abträglich und schädlich wie jene weltweite .Verschönerung“, Versüßung, Verbiede- rung und Verharmlosung, die uns übel- und wohlwollende Zeit- und Volksgenossen, Landsleute, Feinde und Freunde als Marke .Austria“ in Bild and Ton, Plakat und Pose ankleben. Für das Volk, aus dem einige der unerbittlichsten Künstler und einige der schärfsten Denker unserer Epoche stammen, Kubin, Kafka, Kokoschka, Brentano, Meinong, Freud und Wittgenstein, ist es heute zur Lebensfrage geworden, sich selbst die Wahrheit zu sagen — über sich selbst, über seinen Zustand und alle seine Verhältnisse — und dann dem anderen, dem Nächsten in der Welt — und wer in dieser einen Welt ist nicht unser Nächster? — diese Wahrheit in einer Form mitzuteilen, die Verständnis weckt und jene Achtung nicht entzieht, sondern schafft, die notwendig ist, soll es Begegnung geben.

Hier scheiden sich die Geister — und die Publizisten. Die einen sagen oder umschweigen sorgfältig die Zauberformel, die sie für den Stein der Weisen halten: alle Schwächen zu verbergen, alle Schwierigkeiten zu tarnen. Andere glauben: Pressefreiheit bedeutet zuallererst, sein Publikum, sein Volk mit seinen wirklichen Nöten und Gefährdungen — die immer aus oem eigenen Schoß kommen — bekannt und vertraut zu machen. Nur so wird überhaupt aus einem Publikum, das amüsiert werden, aus einer Masse, die angereizt oder aufgepeitscht werden will, Volk. Volk als eine Gemeinschaft von Schuldnern und Gläubigem, Schuldhaften und Unschuldigen, Wissenden und Nichtwissenden, Gläubigen und Ungläubigen Diese alle gehören nämlich zusammen, diese Ja- und Neinsager, diese Lauten und Leisen, diese Klugen und Unklugen: sie bilden in ihrem Freund-Feind-Gespräch das, was wir Volk nennen, das, was wir sind.

Für uns, als ein österreichisches Organ der Presse, heißt das: wir haben uns die Aufgabe gestellt, unserem Volk zunächst über uns selbst jene Wahrheiten zu sagen, die wir brauchen, um weiterzukom men, um weiter bestehen zu können. Wir wissen, daß in dem Maße, als uns dies mehr oder weniger gelingt, wir zunächst uns und dann unseren Freunden einen Dienst erweisen. Nun gibt es aber keine österreichische Wahrheit, so wenig wie es eine deutsche, französische, eine russische oder amerikanische Wahrheit gibt. (Jede Wahrheit, die so tut, sieht danach aus.) Die Wahrheit ist eine und unteilbar. Es gibt also nicht die Wahrheit eines Volkes, sondern nur die Wahrheit über ein Volk. Die, die über ihm steht. F i n- d e n läßt sich die aber nur in der Zusammenarbeit mit dem Nächsten. Es kann uns also nicht gleichgültig sein, was unser Allernächster, das deutsche Volk, über uns als wahr befindet. Nicht nur Handel und Verkehr, Wirtschaft und Kultur, Theater und Unterhaltung profitieren oder defizitieren von dieser Wahrmeinung, sondern unsere Existenz an sich wird durch sie mitbeslimmt, mitgeformt. Ein Volk ist nämlich auch das, was andere von ihm halten: einfach schon deshalb, weil es von allen anderen miterhalten wird. Es gibt kein Volk auf dieser Erde, das es wagen dürfte (in der Tat, nicht mit dem Munde, wie es leider täglich geschieht), heute auch nur einen Tag für sich selbst zu bestehen, nicht erhalten, miterhalten von allen anderen. (Diese Tatsache in der Weltöffentlichkeit zu verbreiten, ist eine der schönsten und schwersten Aufgaben einer wahrhaft nationalen Publizistik.) Jeder Mensch nun, der es einmal gewagt hat, Bilanz in seinem eigenen Leben zu ziehen, weiß: es sind oft nicht die «großen Ereignisse“, die unser Schicksal, unseren Lebensweg geformt haben, sondern scheinbar kleine, leise Dinge. Für Völker heißt das: es müssen nicht „die Großen“ sein, die am tiefsten auf den Kern, auf die Volkssubstanz einwirken, in ihren Kriegen und Konferenzen — bei den entscheidenden Schlachten im Geist, in der Seele spielen oft „Kleine“ eine weltgeschichtliche Rolle. Die griechischen Sklaven, die Scipio nach Rom brachte, waren für das Werden des Imperiums wichtiger als hundert Legionen befreundeter und befeindeter Mächte.

In diesem Moment merken wir — schon wollte uns ein Gefühl der Unpäßlichkeit beschleichen (sprechen wir nicht immer nur von uns, von uns Österreichern und nicht Von unseren deutschen Freunden?), daß dem gar nicht so ist. Wir sind mitten in eine deutsche, eine deutsch-österreichische Problematik hinübergeglitten — und nun sehen wir auch, daß recht viel von dem, was wir uns selbst wünschen, wohl auch vom deutschen Völk gelten mag. Wahrheit über sich selbst zu erfahren, d i e Wahrheit über sich bei sich und beim nächsten einzuholen, ist heute für das deutsche Volk so wichtig wie jede Tonne Kohle und Stahl, wie jedes Stück Brot.

Unser Wunsch für unser österreichi-

sches Volk und unseren publizistischen Dienst an ihm gilt deshalb, ganz und unteilbar, auch dem deutschen Volk und jenen, die ihm durch die Presse dienen.

Praktisch bedeutet das, so glauben wir, für uns beide: eine rege Aussprache über alle Fragen, die uns verbinden und die uns trennen. Die Welt ist heute voll von Feindschaft — weil nur wenige mehr die Kraft, den Mut, die Geduld und den Charakter zur Gegnerschaft haben. Gegnerschaft ist sachbezogene und sachbegrenzte Auseinandersetzung über wichtige, oft lebenswichtige Probleme, die zu allermeist nur in einem langen guten Ringen einer Lösung zugeführt werden können. Feindschaft ist Schwäche, ein Komplex von Unsicherheit, verquerten Gefühlen und fehlenden Argumenten. Gegnerschaft ist Partnerschaft, ist oft der Freundschaft bester Teil.

In diesem Sinne erhoffen wir mit unseren deutschen Freunden, daß das kommende Jahr beiden Völkern, dem deutschen und dem österreichischen, jene neue Begegnung bringen möge, die zu mitteln die Aufgabe unserer Organe ist. In der Redlichkeit offener Aussprache, die in der Sorge und Frage des anderen die eigene Schwierigkeit mitversteht. Rucksacktourist und Buchautor, Wirtschafter und Schauspieler, Politiker und Sportler werden dann erst aus Schwalben, die noch keinen Sommer machen, zu dem werden können, wozu heute überall in allen Völkern jedermann berufen ist: zum Vertreter seines Landes und dessen Eigenart, dem man in Gabe und Gegengabe froh begegnet, weil ihm ein guter Boden bereitet ist. In Deutschland, in Österreich. In Stadt und Land — und in der Presse.

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