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Not, Gemeinheit, Mord

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Für die im September bei Amalthea erscheinende Neuauflage seiner Literatur-Reisebilder „Stifters Rosenhaus und Kafkas Schloß” schrieb Dietmar Grieser mehrere neue Kapitel, darunter eines über Hugo Bettauer. Wir bringen eine stark gekürzte Leseprobe.

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Für die im September bei Amalthea erscheinende Neuauflage seiner Literatur-Reisebilder „Stifters Rosenhaus und Kafkas Schloß” schrieb Dietmar Grieser mehrere neue Kapitel, darunter eines über Hugo Bettauer. Wir bringen eine stark gekürzte Leseprobe.

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Wien, Herbst 1923. Die Erste Republik hat ihre zweiten Nationalratswahlen hinter sich: Die Christlichsozialen erhalten 82 Mandate, die Sozialdemokraten 68, die Deutschnationalen 15, Prälat Seipel bleibt Kanzler. In der Bundeshauptstadt ist das Kräfteverhältnis genau umgekehrt: Der Sozialdemokrat Karl Seitz tritt sein Amt als Bürgermeister an; der Gemeinderat beschließt das ehrgeizige Wohnbauprogramm des Roten Wien, das die Errichtung von 25.000 Sozialwohnungen innerhalb von fünf Jahren vorsieht. Die Zahl der Arbeitslosen hat die 50.000 überschritten, die Inflation erreicht ihren Höhepunkt, 40.000 Kronen zahlt man für ein Kilo Schweinefleisch.

Am 17. Oktober 1923 kündigt das Wiener Nachrichtenblatt „Der Tag” einen neuen Fortsetzungsroman an: „Die freudlose Gasse”. Autor ist der 51 jährige Hugo Bettauer, der schon im Jahr davor mit seinem Bestseller „Stadt ohne Juden” für beträchtliches Aufsehen gesorgt hat. Selber Jude, doch mit achtzehn zum Protestantismus konvertiert, greift er eines der Themen der Zeit auf: den bedrohlich um sich greifenden Antisemitismus, der „die Juden” für die triste Wirtschaftslage der Alpenrepublik verantwortlich macht. 250.000 Exemplare hat der Buchhandel von dem heftig umstrittenen Roman abgesetzt.

Auch „Die freudlose Gasse” ist ein echter Bettauer: Grelle Zeitschilderung, mäßig verschlüsselte Gesellschaftskritik und schwüle Erotik. 1 lauptfigur ist die junge Grete Rumfort: Typ der kleinen Sekretärin aus verarmter altösterreichischer Offiziers- und Beamtenfamilie, die, den Lockungen eines prächtig florierenden Absteigequartiers heroisch widerstehend, in einen spektakulären Kriminalfall - Juwelendiebstahl und Mord -hineingerät, dessen überraschende Aufklärung in ein deus-ex-machina-haftes Happyend mündet. Ort der Handlung ist ein kurzes Straßenstück im siebenten Wiener Gemeindebezirk, in dem Kleinbürgertum und Nachkriegsnot, Parvenü-Luxus und Edelprostitution zu einer Art zeittypischem Großstadt-Mikrokosmos verschmelzen. Aus den Wegbeschreibungen der Akteure ist unschwer abzuleiten, daß die damals wie heute unter dem Namen Neustiftgasse bekannte Verbindung zwischen Volkstheater und Lerchenfelder Gürtel gemeint ist Im Film, der im Jahr darauf - Premiere: Mai 1925 - der Buchversion folgt, wird Grete Bumfort, Prototyp der verfolgten Unschuld, von einer bildschönen Schwedin verkörpert, die Gustafsson heißt und nun unter dem Pseudonym Greta Garbo am Beginn ihrer Weltkarriere steht. Es ist die erste größere Rolle der 21jährigen; der Wiener Regisseur Georg Wilhelm Pabst hat sie in einem schwedischen Stummfilm entdeckt, ist von ihrem ausdrucksvollen Gesicht hingerissen und holt sie zu den Dreharbeiten nach Berlin, wo im leerstehenden Zeppelin-Hangar die „freudlose Gasse” nachgebaut wird.

Die Drehbuchfassung besorgt der aus Prag stammende Kritiker und Essayist Willy Haas, der sich fünfunddreißig Jahr später - in seinem Lebensrückblick - genau an das Projekt erinnern wird: „Ich las das Buch. Es war ein miserabler Kriminalroman, ein Reißer aus der Wiener Inflationszeit. Aber ich wußte sofort, was G. W. Pabst mit seinem untrüglichen Flair fürs Zeitgemäße reizte: Es war das grelle soziale Bild der Inflation, der Bankrott der alteingesessenen patrizischen Beamten- und Akademikerkreise, die Korruption, der moralische Zerfall, wie wir sie auch in Berlin erlebt hatten.”

Verzweifelt kehrt G. W. Pabst vom ersten Drehtag heim. „Sie zittert vor Nervosität!” berichtet er seiner Frau. Alle Versuche, der Anfängerin die Aufregung auszureden, sie könne ihre Szenen wiederholen, so oft sie wolle, niemand werde ihr daraus einen Strick drehen, sind vergeblich. „Da kam meinem Mann die rettende Idee - per Zufall. Es ging um eine kleine, aber wichtige Szene: Eine Aktentasche, die deutlich sichtbar zu Boden fällt. Der Vorgang kam im Bild nicht kräftig genug zur Geltung, also entschloß man sich, ihn in etwas gedehnterem Tempo zu drehen - mit einem Anflug von Zeitlupe. Und genau dies war auch die Lösung für Greta Garbos Nervositätsproblem: Nun, auf den langsamer gedrehten Bildern, wirkte sie auf einmal ganz ruhig.”

Der Stummfilm „Die freudlose Gasse” wird ein Erfolg, der weit über den Tag hinausreicht. Doch zurück zu Hugo Bettauer. Daß seine Romane so gewaltig beim Publikum einschlagen, hat nicht nur mit seinem feinen Gespür für Stoffe zu tun, die den Leuten unter die Haut gehen, sondern auch mit seiner Manier, die Dinge klar beim Namen zu nennen, und das gilt nicht zuletzt für die von ihm verwendeten Schauplätze. Ob es der Hohe Markt oder die Gumpendorferstraße, der Arenbergring oder die Goldschmiedgasse, die Pötzleinsdorfer Herrschafts-villa oder der Türkenschanzpark, das

Hotel Bristol oder das Restaurant Eisvogel, Burgtheater oder Konzerthaus, der Trabrennplatz Krieau, das Landesgericht oder die Bellaria sind, die er an passender Stelle in die Romanhandlung der „Freudlosen Gasse” einfügt: Das Wiener Publikum, mit all den Örtlichkeiten wohlvertraut, fühlt sich auf diese Weise ins Geschehen einbezogen, kann sich gleich viel leichter mit den Figuren identifizieren. Nur bei der Benennung des Hauptschauplatzes entscheidet sich der Autor für Verschleierung: Aus der Neustiftgasse macht er eine Melchiorgasse - wohl, um deren Ambiente zu neutralisieren, ins Allgemeine zu erheben.

Es wird Zeit, ein paar Daten zur Biographie des Autors der „Freudlosen Gasse” nachzutragen. Am 18. August 1872 kommt er in Baden bei Wien zur

Welt; der Vater stammt aus Lemberg, ist ein wohlhabender Börsenmann, stirbt jung. Der Hauptwohnsitz der Familie ist Wien, hier besucht Hugo das Franz-Joseph-Gymnasium an der Stubenbastei, im dritten und vierten Schuljahr sitzt er in einer Klasse mit dem anderthalb Jahre jüngeren Karl Kraus.

Auf der Fahrt nach Amerika verliert er sein Vermögen an einen Bankrotteur, kehrt bald nach Europa zurück, versucht sein Glück in Berlin. Heftige Angriffe gegen die Polizei, deren Chef er Korruption, Protektionismus und Unfähigkeit vorwirft, bringen ihn um seinen Posten als Lokalredakteur der „Berliner Morgenpost”. Nach dem Scheitern seiner ersten Ehe sogleich eine zweite eingehend, nimmt der inzwischen 31jährige neuerlich Anlauf auf die Neue Welt, und diesmal klappt es. Als Reporter der „New Yorker Staatszeitung” entdeckt Bettauer eine Marktlücke: Er schreibt Fortsetzungsromane für Amerika-Auswanderer aus dem deutschsprachigen Raum. Es ist schon der gleiche Typus zeitkritischer Kolportageliteratur, mit dem er ab 1920, nun wieder in Österreich ansässig, auch in der Heimat Erfolg haben wird. Er schreibt bis zu fünf Romane pro Jahr, darunter „Die freudlose Gasse”, und entfesselt schließlich mit der Gründung und Herausgabe einer „Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik” einen solchen Proteststurm der Biedermänner, daß es seinetwegen zu wüsten Schlägereien im Wiener Gemeinderat, zur Beschlagnahme und Einstellung des Blattes und im September 1924 auch zu einer Anklage wegen Pornographie und Kuppelei kommt.

Sein Freispruch wird Bettauer zum Verhängnis: Die Medienhetze seiner nun erst recht wütenden Gegner aus dem nationalen und christlich-sozialen Lager nimmt bald auch unverblümt antisemitische Züge an, ein arbeitsloser Hitzkopf stürmt das Redaktionsbüro von „Er und Sie” und streckt den „Schandliteraten” mit fünf Pistolenschüssen nieder.

Seiner drastischen literarischen Mittel wegen auch von wohlmeinenden Kollegen nie mit Samthandschuhen angefaßt (Anton Kuh wirft ihm „Anti-Courths-Mahler-Gesinnung in der Courths-Mahler-Sprache” vor), ist es kein Geringerer als Robert Musil, der in seinem Nachruf Hugo Bettauer gerecht zu werden versucht

„Eine Zeit, welche nicht auf das Wort des Schriftstellers hört, sondern auf das Schlagwort, hob ihn inden Mittelpunkt eines Streites, dem er zum Opfer fiel. Impulsiv, empfänglich, hatte er die Gabe, das auszusprechen, was Tausende fühlten. Er sprach es genau in der Weise und mit den Mittel aus,welche man heute anwenden muß, um zu wirken. Persönlich leitete ihn niemals das Verlangen nach persönlichen Vorteilen, denn dieses hätte der beliebte Schriftsteller viel bequemer befriedigen können, sondern es leitete ihn die herrliche Überzeugung, zu bessern.”

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