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Notizen aus Paris

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Die Bekanntschaft, die der Wiener mit Paris schließt, beginnt mit einem Schock: den überdimensionierten Labyrinthen der Untergrundbahn entsteigend, steht man plötzlich vor einem der charakteristischen Sternplätze, auf dem einige hunderte Autos einen Hexentanz exekutieren und einige kleine Polizisten lediglich die glücklichen Zufälle zu repräsentieren scheinen, denen es zu danken ist, daß keine Verkehrskatastrophen eintreten. Zugleich aber drängt sich dem Wiener sofort auf dem ersten Blick die Ähnlichkeit auf, die zwischen den beiden Städten an der Seine und an der Donau besteht: auf irgendeine unerklärliche Weise sind die Gesichter der Vorübereilenden, ist das Straßenbild seltsam vertraut — und der Wiener glaubt sich plötzlich in ein lebendigeres, ein technisiertes Super- Wien verletzt. Und erleidet, was er in Rom oder im größeren London nicht kennengelemt hat — eine Art von Weltstadtschock…

Aber das dauert nicht lange. Paris ist von kriegerischen Königen und einem Soldatenkaiser nach den Grundsätzen eines durchaus martialischen Rationalismus geordnet und reguliert worden. Dem Mars sind nicht nur das Feld rings um den Eiffelturm und — dank einer mythologischen Bizarrerie — auch die elysäischen Gefilde gewidmet: die Boulevards zeichnen in Namen, Verlauf und mit den schnurgeraden Häuserfronten getreulich den Verlauf der alten Bollwerke und Basteien nach und ein stolzer Patriotismus hat selbst den kleinsten Untergrundbahnstationen wuchtige Namen gewonnener Schlachten verliehen. Der Plan der Stadt aber weist nicht die wirren und den Zufälligkeiten des Geländes sich anpassende Strukturelemente eines organischen Wachstums auf, sondern die klaren, geometrischen Ordnungen des alten Festungsbaus: die Plätze sind Sterne oder Kreise, die Boulevards haben die stumpfen Winkel der Bastionen und die großen Prunkanlagen im Herzen der Stadt sind wie eh und je Paradeplätze. Die Denkmäler der Vergangenheit und der Gegenwart, die großen Bauten und Kirchen sind mit teils willkürlicher, teils unabsichtlicher Berechnung weithin sichtbar gemacht worden: man stößt nicht unvermittelt auf sie, sondern man nähert sich ihnen, sie von ferne schon als Fluchtpunkt einer Straßenachse erblickend. Unerwartete Begegnungen sind sozusagen von vornherein ausgeschlossen.

Diese Klarheit und Übersichtlichkeit —Paris ist eine Stadt, in der man sich nicht verlieren kann — läßt den Fremden seinen ersten Schock schnell vergessen; ihm teilt sich bald etwas von dem Gefühl der Sicherheit mit, und vierundzwanzig Stunden nach seiner Ankunft fühlt er sich in Paris ganz und gar heimisch.

In Wien würde es allgemein als ein Kultursakrileg empfunden werden, wenn eine Modefirma ihre Vorführungen etwa im Kunsthistorischen Museum veranstaltete; aber kein Pariser entrüstet sich, wenn Fath, Balmain oder andere große Schneider von ihren Mannequins im Louvre und zu Füßen der Venus von Milo die neuesten Modelle zeigen lassen. Das kulturelle Leben Frankreichs steht noch nicht ausschließlich unter dem Zeichen und den strengen Vorschriften des Denkmalschutzes, die uns gelehrt haben, Gegenwart und Vergangenheit streng auseinanderzuhalten und zwischen Begriffen wie »Kunst“ und „Mode" eine künstliche und unüberschreitbare Grenze gezogen haben: am Louvre leuchten Neonröhren, und ein Schneider kann sich nicht gerir geren Ruhm erwerben als ein Maler. Und es gibt große Zeitungen, die einen Streit zwischen zwei bekannten Literaten ebenso interessant und zum „Aufmacher“ geeignet finden wie die Nachricht von einem sensationellen Raubmord. Man versteht wohl, die Kategorien zu unterscheiden — aber man läßt sie gerne, des ästhetischen oder des intellektuellen Genusses wegen, ineinander verfließen. Genuß und Gourmandise, hier werden sie noch gewürdigt und geübt und siehe da, sie sind nicht Feinde, sondern Förderer des kulturellen Lebens: der eine, weil er nach Reichtum und Fülle, die andere, weil sie nach Erlesenheit strebt…

Vergleiche fallen nicht immer zu unseren Gunsten aus, auch in sehr viel tiefer reichenden Belangen nicht: als vor wenigen Jahren ein junger Tiroler Maler eine Innsbrucker Kirche mit zwar zeitgemäßen, aber durchaus nicht irgendwie avantgardistischen Fresken ausmalte, erhob sich ein Sturm der Entrüstung — die Fresken mußten später verdeckt werden. Als aber in Frankreich Leger, Germaine Richier und Luręat berufen wurden, um eine neue Kirche in Assy zu schmücken, und als man den uralten Matisse aufforderte, in Vence eine Kapelle zu bauen, da erhob sich nicht eine einzige Stimme, die den Wert eines solchen Wagnisses bezweifelt hattę: und doch waren beide Unternehmen Wagnisse sondergleichen, denn keiner der genannten Künstler stand jm Rufe sonderlicher Neigung zum Christentum — eher traf das Gegenteil zu. Nachher, als Kirche und Kapelle gebaut Waren, entstanden Diskussionen, die sich aber in maßvollen Grenzen hielten.

Freilich, auch in Paris haben die Künstler ihre Sorgen — wenn man nämlich von den Literaten absehen will, die ja an der Seine im allgemeinen eine Wertschätzung zu genießen scheinen, wie man sie etwa in den mohammedanischen Ländern Derwischen entgegenbringen dürfte. Die Dramatiker klagen, denn das „große“ Theater sucht seine Autoren unter den Toten im Panthėon — und die kleinen Experimentiertheater sind ebenfalls ihrer Zeit nicht gar so weit voraus, wie man glauben möchte, ehe man die Theaterprogramme studiert: von den beiden wichtigsten Avantgardetheatern bringt derzeit eines Schillers „Maria Stuart“ als französische Uraufführung, und das andere spielt die „Bluthochzeit" von Garcia Lorca, ein Stück also, das sich in Wien immerhin schon das Akademietheater gewonnen hat. Gewiß, daneben gibt es noch eine Unzahl jener kleinen und kleinsten Experimentierbühnen, die den neuen und jungen Autoren offenstehen; aber die zahlen schlecht oder gar nicht, und alles in allem ist das Fazit nicht eben ermutigend. Ähnliche Beschwerden haben die Komponisten zu äußern — und die Maler. Es geht ihnen um kein Haar besser als ihren Wiener Kollegen, aber sie haben die schwere Aufgabe, die große Tradition der Moderne zu wahren und fortzusetzen. Frankreich hat hundert Jahre lang die europäische Kunst geführt und ihr die Vorbilder gegeben. Und es braucht immer Neues, um seine Vorrangstellung belegen zu können.

Der Name Österreich hat guten Klang in Paris. Die französischen Kriegsgefangenen und „Fremdarbeiter“, die unser Land und seine Bewohner gezwungenermaßen und also nicht unter sehr günstigen Umständen kennengelemt haben, sind zu wahren Propagandisten der französisch-österreichischen Freundschaft geworden. Mehr als ein Regierungsbeamter scheint den Wunsch zu haben, in die französische Besatzungszone jenes Lahdes versetzt zu werden, das nach Meinung des Parisers so viel „Charme“ besitzt, wie es der Wiener von Paris erwartet. Und wem dieser Wunsch versagt bleibt, der kann sich doch jene „Zehn Tage Wintersport in Tyrol“ leisten, die von unzähligen Reisebüros zu außerordentlich billigen Preisen angeboten werden und nicht geringen Anklang finden — wofür der österreichischen Fremdenverkehrswerbung zweifellos einiges Verdienst zukommt. Sie ist in der Tat ausgezeichnet, ja: einzig. Denn sonst ist von einer wirtschaftlichen oder kulturellen Aktivität österreichischer Stellen in Frankreichs Hauptstadt nicht viel zu bemerken, wiewohl ihr viele Sympathien sicher wären. Bezeichnend genug: in ganz Paris und selbst im Pressedepartement des Außenministeriums ist beim besten Willen keine österreichische Tageszeitung aufzutreiben.

Der Abschied von Paris fällt schwer. Und er fällt noch schwerer, wenn man in einen ungarischen Waggon zu sitzen kommt: von Paris bis Basel blickte mich unentwegt und leicht heroisch ein ungarischer Stachanow-Arbeiter an. Er steckte in einem Bilderrahmen, in dem früher einmal vermutlich ein Werbephoto des lebenslustigen Budapest den Reisenden einen Besuch dortselbst als wünschenswert erscheinen ließ — was ein Stachanow-Arbeiter kaum zustande bringen dürfte. Aus der Unterschrift war zu sehen, daß dieser finsterblickende Herr 2000 Waggons der madjarischen Staatsbahnen in erstaunlich kurzer Zeit repariert hatte. In Basel allerdings mußte gerade dieser Waggon wegen verschiedener Gebrechen aus der Garnitur ausgeschieden werden.

Der Waggon, in den ich dann einstieg, gehörte den ÖBB und enthielt keine Stadianow-Photos, sondern Bilder von Zell am See und Heiligenblut. Aber er funktionierte tadellos und ich vergaß nicht, zwischen Basel und Wien in meinem Herzen das Land zu rühmen, in dem die Reisenden nicht dauernd einem Herrn Horvath Pal in die Augen blicken müssen, weil er ein „Held der Arbeit“ ist…

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