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Novak, Mauer und die anderen

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Wer denn, diese anderen? Nun: Murer, Rojko, Verbelen ... Die Liste wird immer länger: Wer heute in Österreich wegen Mordes vor Gericht steht — wohlverstanden: wegen Mordes in hundert, tausend Fällen, begangen freilich „nur“ an Juden, Polen oder anderen „Untermenschen“ —, der hat die Chance, davonzukommen, der hat auch Gelegenheit, diese Chance fest zu ergreifen, sich herauszureden auf den Befehlsnotstand, diesen unglückselig formulierten juristischen Begriff.

Die Öffentlichkeit — wer ist die Öffentlichkeit? — hätte endlich genug von all den Greueln, heißt es in Gesprächen, am Biertisch oder im Salon. „Krieg ist Krieg, und immerhin ...“ Dieses immerhin: dahinter verbirgt sich unausgesprochen so viel, das geht von den Zeugen, die verdächtig sind („wo kommt die denn plötzlich lier?“) bis zu geflüsterten Versicherungen, der Anklä ger „sei doch auch ...“ Vielsagendes Augenzwinkern.

Was nützt es schon, wenn sich Jugendliche den gelben Stern anheften? „Gammler“ und „Kommunisten“ sind noch die vornehmsten Bezeichnungen, die für da's Häuflein Manifestanten in der Wiener Innenstadt gefunden wurde, das dieser Tage gegen den Novak-Freispruch demonstrierte. Und überhaupt: Man weiß doch, daß die Juden nur noch mehr Geld als Entschädigung wollen — als ob ermordete Angehörige durch einen Scheck aufgewogen werden könnten.

Und schließlich: Selbst Ingenieur Wiesenthal hätte ihm die Hand gedrückt, versicherte einer der beiden Angeklagten im Mauer-Prozeß dem Gericht, hier wohl einen recht seltsamen Zusammenhang konstruierend, fast ungewollt komisch in seiner ganzen Makabrität. Gewiß, die Gefahren, die in der gerichtlichen Verfolgung von Untaten liegen, die vor mehr als zwei Jahrzehnten begangen wurden, liegen klar auf der Hand: Soll ein Zeuge sich heute mit Sicherheit daran erinnern können, ob der Angeklagte, der vor ihm steht, einst der Mann in schwarzer oder grüner Uniform gewesen ist, der damals die Maschinerie des Todes in Gang gebracht hat? Ein Uhrwerk der Vernichtung, dem nur wenige entgehen konnten? Und eben da hakt die Verteidigung ein: Zeugen werden unsicher gemacht, in ihrer Glaubwürdigkeit erschüttert oder eingeschüchtert. Und die Institution der Geschworenengerichte, die einst aus politischen Gründen errichtet wurde, scheint sich in solchen Fällen, die hier zur Diskussion stehen, immer weniger zu bewähren. Könnte es sonst sein, daß die Entscheidungen der Laienrichter immer öfter wegen offensichtlichen Irrtums ausgesetzt werden?

Es geht letztlich gar nicht um die kümmerlichen Gestalten, die heute auf der Anklagebank sitzen, mit den Resten eingetrichterten Kasinotons dem Richter Rede und Antwort stehen und sich im übrigen darauf berufen, nur ein kleiner Mann, ein Befehlsempfänger gewesen zu sein, der einfach nicht anders konnte. Es geht vielmehr darum, daß in Österreich seit 1945 ein Menschenleben offenbar nicht mehr zählt, daß — gemessen an den bisher ausgesprochenen Strafen — das Leben eines Opfers jener schrecklichen Zeit höchstens mit ein paar Minuten Buße aufgewogen wird. Das aber ist — soweit man diese Gleichgewichtsprobe überhaupt anstelle kann — zuwenig. Viel zuwenig.

Den Durchschnittsbürger kümmert dies alles nicht sehr. Sicherlich: Mord in diesen Dimensionen übersteigt das Fassungsvermögen. Mord in Hekatomben ist unvorstellbar und deshalb uninteressant. Und alle aufrüttelnden, grauenerregenden Vergleiche helfen da kaum.

Das sich schwach regende Gerechtigkeitsgefühl wird einfach unterdrückt. Was das Ausland, aber auch die österreichische Jugend, die sich in wenigen Tagen einer stolzen Schaustellung des Nationalgefühls gegenübersehen wird, dazu sagen werden, ist uninteressant. Der Ruf ist ohnehin schon ruiniert, so lebt man eben weiter, mit dem Skelett im Schrank und Alpträumen in der Nacht. Und dem Verbelen, dem Rajakowitsch, dem Novak unter uns.

Der einzige von all den tausenden und aber tausenden Funktionären in grauen, grünen, schwarzen oder braunen Uniformen, der sich nicht auf den Befehlsnotstand berufen könnte, stünde er vor Gericht, hat seinem Leben freiwillig ein Ende bereitet. Und so können seine Stellvertreter, von den größten herab bis zu den ganz kleinen, die eigene Lebensgefahr bei Nichterfüllung eines Befehls ins Treffen führen. Immer zur Entlastung, zur bereitwillig akzeptierten Entlastung: Für Novak und die anderen. Wird also jedes Vorgehen gegen spät aufgefundene Kriegsverbrecher in Österreich zur Farce?

Aber nehmen wir einmal den utopischen Fall an — die Annahme ist weder neu, noch originell, noch stammt sie von uns —, irgendwo taucht ein alter Mann auf, der als der ehemalige „Führer“ erkannt und vor Gericht gestellt wird: Er gibt an, selbst nur Getriebener, nicht Motor gewesen zu sein. Die Notstandskonstruktion würde dann selbst auf ihn Anwendung finden ...

Die Irrealität dieser Annahme freilich darf nicht von der Gegenwart ablenken, in der — nach Novak

— nun zum zweitenmal ein Verfahren durchgeführt wird, das die Augen der Welt auf unser Land zieht. Wird es sich wiederum erweisen, daß es in Österreich unschwer möglich ist, durch das weitmaschige Netz der irdischen Gerechtigkeit zu schlüpfen?

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