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Nürnberg

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Noch immer tagen in der einstigen Stadt der Reichsparteitage Hitlers die Kriegsverbrecherprozesse. Noch immer wird in den Nürnberger Gerichtssälen um die Eingeständnisse ungezählter Morde mit allen Finessen kriminalistischer Verhandlungskunst gerungen. Noch immer schließen, noch so wichtige Aussagen unterbrechend, Schlag halb 12 Uhr vormittags und um halb 5 Uhr nachmittags die Verhöre, und noch immer bildet ein Heer von Richtern, • Rechtsanwälten, Beamten, Dolmetschern, Fernschreibern, Prozeßzeugen usw. inmitten der Ruinen der zu 67 Prozent zerstörten Stadt einen Staat — aber nicht im deutschen Staate. Denn dieser Nürnberger Gerichtsstaat hat mit dem übrigen Deutschland nichts zu tun. Er ist eine Existenz, ein noch nicht dagewesenes Geschöpf für sich.

So sdirecklidi diese uhrenhaft gleichförmige Regelmäßigkeit des Nürnberger Prozeßbetriebes ist, so sehr hat sich seine innere Wesenheit verändert. Zwar wird durch die deutsch und englisch geführte Unterhaltung, durch die Vielsprachigkeit der aufgerufenen Zeugen und durch die im Saale immer vernehmliche Übersetzungsarbeit der Dolmetscher in dem Beschauer der Eindruck der Überstaatlichkeit dieses Gerichtes aufrechterhalten. Ein Blick in die verschiedenen Anklageschriften genügt jedoch, um zu erkennen, welch großer Wandel sich vollzogen hat. Bei der Eröffnung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse besaß der Gerichtshof noch das Gesicht eines internationalen Gerichtshofes und sein Auftreten bestärkte in aller Welt den Eindruck, daß hier zum erstenmal in der Geschichte ein Völkertribunal versammelt sei, über Leben und Tod entscheidend gegen Übeltäter an der Völkergemeinschaft. Es gab noch kein Gesetzbuch, auf das sich dieses internationale Forum berufen konnte, aber man glaubte schon ein neues Völkerrecht, ein Jus gentium gegen verbrecherische Verletzungen des Weltfriedens in Nürnberg heranwachsen zu sehen. Unversehens änderte sich dieses Bild. Zuerst verschwanden eines Tages die russischen Beisitzer, wenige Tage später folgten die Engländer und Franzosen. Alle drei errichteten ihre eigenen Kriegsverbrecher-Prozeßstädte und wenn auch nach gleichen Rechtsgrundsätzen angeklagt wird, so wird doch in jeder Prozeßstadt nach dem jeweiligen nationalen Recht des anklagenden Staates abgeurteilt. In dem graugrünen Gebäude des ehemaligen Kreisgerichtes von Franken sitzt nicht mehr die Welt zu Gericht. Hinter dem Stuhle des Richters in Nürnberg steht nur die amerikanische Flagge. Die Formel lautet: ■ „Die Vereinigten Staaten von Amerika erheben durch den Unterzeichneten Telford Taylor, Obersten Richter für Kriegsverbrechen, eingesetzt durch seine Regierung, die Anklage gegen ...“

Woche um Woche rollt hier dasselbe Verfahren ab — Grauen um Grauen in einem Prozeßakt wie dem anderen in schauerlicher Eintönigkeit. Tausende, zehn-tausende, hunderttausende Morde. Viele, gewissermaßen gewerbsmäßige Zuschauer, berufliche und neugierige, füllen die Säle. Unbewegt und kühl unterscheiden sie sich wenig von einem blasierten Zirkuspublikum.

Der Fremde, der dann auf die Straße tritt und einen Einwohner der Stadt nach seiner Ansicht über die Vorgänge in dem graugrünen Hause fragt, begegnet dem Erstaunen ob der Zumutung, einer kalten Gleichgültigkeit oder dem Unwissen.

In dieser Stadt, in der so viele Sünden gebüßt werden und der Tod so viele schreckliche Gestalten hat, ist das vielleicht die größte Tragik. Das große Weltgericht, das nicht mit dem deutschen Volk, sondern allen Völkern der Erde mit aller Strenge die Ehrfurcht vor dem Rechte und die Heiligkeit der sittlichen Ordnung ein-prägen sollte, ist zu einer schon gewohnten Schau geworden, die hingenommen wird wie irgendeine andere Einrichtung irgendeiner Besatzungsmacht. Nicht nur in Nürnberg, nicht anders von ungezählten Millionen Zeitungslesern in aller Welt.

Das Nürnberger Gericht ist eine wundervolle Maschine, in der tausend kleinste Rädchen laufen. Aber die Fackel der Themis, die über einem aus einem inter-' nationalen Verfahren ohnegleichen herausgewachsenen neuen Völkerrecht zum Schutze des Friedens und der menschlichen Kultur leuchten sollte, ist verlöscht.

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