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NUR EIN MENSCH IST AUF DER WELT

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Wann war es, daß ich das Paradies verließ? War ich drei oder sechs Jahre alt, als mir die Beschäftigung mit mir allein nicht mehr genügte und ich aufhörte, allein auf der Welt zu sein.

Damals, als ich den Arm stolz in der Schlinge trug, weil ich mir beim Fangenspiel den Daumen gequetscht hatte, war ich schon in der „Taferlklasse”. Haben mich andere darauf gebracht — meine Mutter vielleicht — oder ist es mir selber eingefallen, daß meine Verwundung ein Grund zum Stolzsein war?

Kein Zweifel, der Drang zu imponieren ist uns angeboren. Wir streben es an um jeden Preis und mit jedem Preis, durch den wir uns vor den andern ausgezeichnet glauben. Und sei es selbst durch unsere Leiden. Nicht nur bei Mensuren verwundete Studenten, auch die am Beginn eines Krieges noch seltenen Verwundeten des Schlachtfeldes tragen ihren Verband mit Stolz. Und jeder findet das natürlich. Nicht nur mitleidige, auch neidische Blicke haben die ersten Einarmigen von Neununddreißig auf sich gezogen.

Den Trieb zu imponieren können wir nicht verleugnen und sollten ihn weder belächeln noch gar verachten. Wo uns Kraft und Ausdauer zu verlassen drohen, gibt er sie uns zurück. Er hat die Berühmten berühmt und die Großen groß gemacht Die Größten noch verzweifelter, wenn sie den Kleinen mit ihren Werken nicht imponieren konnten. Die Biographien der Geistesheroen berichten uns, daß dies nicht das geringste ihrer Leiden war.

Wollten wir einwenden — mit Teilhard de Chardin —, daß es auch Menschen gibt, die mehr sein als scheinen und besitzen wollen, so würden wir doch gestehen müssen, daß wir auch für unser Sein immer nur um anderer willen bemüht sind. Im schlimmsten Fall aus Eitelkeit und bestenfalls aus Liebe. Für uns selbst ist weder unser Scheinen noch unser Sein bestimmt.

Und eben darum, weil uns der Wille, vor andern groß zu erscheinen, angeboren, gilt auch seine Verneinung als Ausdruck höchster Geisteskraft. Wäre für Weisheit ein Nobelpreis ausgesetzt, wir würden ihn nur dem einsamen indischen Weisen zuerkennen, der sich jeder imponierenden Äußerung enthält.

Denn der Trieb zu imponieren hat ein zäheres Leben als eine Katze. Man muß ihn die eigentliche menschliche Potenz nennen. Er hat mehr Heiraten zustande gebracht als die Liebe und mehr Kunstwerke als das Genie.

Natürlich schämen wir uns, wie aller unserer Triebe, auch dieses Triebes. Daher fälschen wir so gerne die Motive unserer von ihm herrührenden Handlungen um. Da wollen wir für die Heimat oder das Vaterland, für etwas „Größeres” getan haben, was bloß wegen der Nachbarn geschah, denen wir imponieren wollten.

Und lügen wir etwa? Die Heimat, das ist ja der Nachbar. Das Vaterland ist ja nicht die Erde, sondern er, der „andere”, mit dem wir sie bewohnen. Wer vermöchte für Heimat und Vaterland zu sterben, wenn diese Begriffe nicht den „andern” mit einschlössen, vor dessen staunende Augen uns das unmöglich Erscheinende möglich wird: Dem Tode zu trotzen, ja, ihn zu empfangen.

Nein, wir dürfen unseren Trieben vertrauen. Sie sind gut. Und sind wir selber gut, dann nur durch sie. Und die Großen tun gut daran, vor dem Urteil der Kleinen zu bangen. Denn vor allem für den andern Menschen gilt, was Rilke einem jungen Dichter geschrieben hat: „daß wir, wenn wir stille halten, durch ein glückliches Mimikry von allem, was uns umgibt, kaum zu unterscheiden sind”. Wir unterscheiden uns in der Tat so wenig von ihm, daß wir, um unseres eigenen selbständigen Lebens gewiß zu bleiben, ängstlich bemüht sein müssen, nur ja jede Gleichheit zu verwischen und zu verleugnen.

Darum ist nicht erst der „Mensch in seinem Wahn” für uns „der schrecklichste der Schrecken”, sondern einfach schon der Mensch an sich, der Nachbar, der durch sein Gleichsein mit uns, uns die Lebensberechtigung nimmt, unser Leben sinnlos macht. Und nur einer, der, wie Rilke, durch seine besondere Begabung sein Unterschiedensein vor der Gefahr des Ausgelöschtwerdens gesichert weiß, wird auch zu hoffen wagen, daß „vielleicht alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose ist, das von uns Hilfe will”.

In jedem Menschen lebt eine Ahnung des Paradieses fort, eine Art kollektiver Erinnerung an die Zeit, da man allein war und keinem zu imponieren brauchte. Beim Anblick des „anderen” fällt es ihm ein. Dann fühlt er sein Vertriebensein an dem aufsteigenden entwürdigenden Drang, der ihm befiehlt, sich vor seinem Spiegelbild als Wirklichkeit zu bestätigen.

Für Kain muß diese Erinnerung noch so stark gewesen sein, daß er einfach nicht zusammen leben konnte mit dem Bruder, dem Gott gnädig war, den er Künstler, das heißt: allein und somit im Paradies sein ließ. Ihm zu imponieren war schwer, wenn nicht unmöglich. Aufgeben hieß nicht leben. Da tötete er ihn — nicht aus Neid. Vergeblich, wie alle Verbrechen, auch dieses, nachdem Adam nun einmal unbegreiflicherweise aus der eigenen Spezies den Partner für ein Gespräch erhalten hatte. Trotz seiner außerordentlichen Phantasie konnte er nicht ahnen — sie muß wahrlich un gewöhnlich gewesen sein, diese Phantasie, denn sie erlaubte ihm, mit sich selbst darüber zu streiten, wer mehr ist: ich oder ich. (Dem Nestroyschen Ulk liegt die menschliche Situation zugrunde: Täglich werden wir mit uns selbst zusammengehetzt, um zu sehen, wer der Stärkere sei.) — Nein, Adam ahnte nicht, daß seine Erfindung — oder Entdeckung? — Eva das Ende des ihm gemäßen, später Paradies genannten, Zustandes bedeuten würde; daß er, dem Gescheitsein natürlich war, von nun an werde gescheiter sein müssen — also so ziemlich das Gegenteil von gescheit —, gescheiter nämlich als Eva; daß er in Zukunft niemals mehr werde sich selbst vergessen können, da er in jedem Augenblick vor Eva „jeder Zoll ein Adam” weniger zu sein, als zu posieren haben werde; daß von da an die Welt auf Dummheit gebaut sein werde, auf der Dummheit der „anderen”, denen man wegen Dingen imponieren kann, die sie noch nicht kennen; daß es nicht zuletzt aus diesem Grunde immer wieder Kinder geben werde, als ideale Objekte für das Wissen, das einem selbst nichts nützte und das man daher an sie weitergeben konnte, damit sie es ihrerseits einst wieder Kindern übergeben sollen, nachdem es auch ihnen nichts genützt, den Ringelnatz- schen Würmern gleichend, die wiederum an Würmern litten. Das alles ahnte Adam nicht.

Zuweilen träume ich: Nur ein Mensch ist auf der Welt. Dieser ist dann ganz verwandelt. Denn natürlich bin ich dieser Mensch. Ich glaube, ich sehe die Welt dann so, wie sie wirklich ist. Es gibt nicht etwa keine Leute in meinem Traum. Es wimmelt von ihnen darin. Nur: es sind keine Menschen. Wie Portraits gleichen sie ihnen bloß.

Wenn ich auf der Straße ausgleite und hinfalle, schäme ich mich nicht vor jenen, die mir dabei zuschauen. Daran zuerst erkenne ich, daß ich allein auf der Welt bin. In alle mir begegnenden Gesichter schaue ich offen hinein, auch in die von Nachbarn, die schlecht über mich reden. Nicht mit dem traurigen Blick eines Einsamen, sondern mit dem Blick Adams, der allein auf der Welt ist.

Die Straßenkreuzer auf meiner Traumstraße machen mir keine Vorwürfe, weil ich zuwenig verdiene, und ich suche nicht, was ich ihnen an eigenen Vorteilen oder Verdiensten entgegenhalten könnte. Den Leuten, die da einsteigen, neide ich ihre niedrigen Nummern nicht. Beim Anblick von uralten Leuten fällt mir ihr Tod nicht ein, so wenig wie bei dem von jungen, die gefährlich leben. In meinem Traum ist keine Zeit, und deshalb auch kein Tod.

Mein Wissen in diesem Traum ist ganz anderer Art als mein Wissen, wenn ich wach bin. Weiß ich dann überhaupt etwas? Nichts, das ich mitteilen könnte. Schon deshalb natürlich, weil ich doch allein bin. Es ist ein Wissen, das nur mir allein gehört. Ich kann es selber brauchen, und ich muß es gar nicht mitteilen, um ihm erst dadurch Wert und Sinn zu verleihen, wie es bei meinem wachen Wissen der Fall ist, an das ich mich in meinem Traum erinnere wie an etwas sehr Lächerliches.

Neben „Mannsbildern” begegne ich auch solchen von Frauen. Gleich erinnern sie mich an Eva und ich erwache wieder. Bei ihrem Anblick fühle ich Tolstoi nach: Es ist kein Traum, Geliebte, es ist Leben! — Und geduldig nehme ich wiederum die Last auf, lasse mich, ein anderer Atlas, von Herakles-Eva überlisten, sie wieder aufzunehmen: die Last, Dümmere zu suchen, um nicht selber der Dümmere zu sein.

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