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Jorge Semprúns Roman "Zwanzig Jahre und ein Tag"

E s war in Toledo ...", 1956, und der Erzähler - nicht einer, sondern Geflüster aus vielen Ecken, mit Verschränkungen und Verflechtungen, in Rückblicken und Andeutungen - ein Schriftsteller, der Jahrzehnte hinter falschen Namen versteckt, unter angenommenen Biografien und in unterschiedlichen Sprachen gearbeitet hat, schreibt, 80 Jahre alt, das erste Buch in seiner Muttersprache. Jorge Semprún gibt "seine Maske, seine Verkleidung" (Semprún über seine Schreibsprache Französisch in einem Interview Ende 2000) auf und stürzt sich wieder in das Wagnis, Fiktion, Rekonstruktion und Fabuliertes zu einem überzeugenden Gespinst der Wahrheitssuche zu machen.

"Zwanzig Jahre und ein Tag" ist das Strafausmaß, das Semprún während der Franco-Ära bei Gefangennahme zu befürchten hat. Es ist aber auch die Dauer, die zwischen der zu schildernden Familientragödie und ihrer einstweilig endgültigen Niederschreibung liegt.

Worum geht es wirklich in diesem Spiegelkabinett voller Streiflichter und Zitate? Es geht um Menschen und ihre Bücher! Bücher, die bestimmte Biografien beherrschen, z.B. von Marx, Augustinus, Faulkner (welche Auswirkungen, welche Folgen!). Und es geht um ein Bild. Ein Gemälde, das es, in minimaler Abweichung, gleich zweimal gibt, Judith, den Holofernes nach ihrer Entjungferung tötend, von der wunderbaren Artemisia Gentileschi gemalt.

Mit der Darstellung von Frauen hat der Erzähler manchmal Probleme, es ärgert ihn, dass er sie bis jetzt nicht so vielschichtig präsentierte, wie er wollte. Mit dem Kunstgriff der Verdoppelung durch ein Bild wird Mercedes das, was alle Männer rundherum ebenfalls sind, Täter und Opfer zugleich, geradlinig und gleichzeitig mysteriös: allesamt kostümierte Larven für die Wahrheiten, die versteckt dahinter liegen, Geschichten in Geschichten wie russische Puppen.

Der schöne - dieser Hinweis ist wichtig, erklärt er doch die Leichtigkeit, mit der dem Historiker Einlass in intime Räume gewährt wird - Amerikaner Michael Leidson soll den privaten Gedenktag einer spanischen Herrenfamilie miterleben: Pächter und Arbeiter führen ein grausames Mysterienspiel auf, das an die zufällige und daher noch barbarischer anmutende Ermordung des dritten und jüngsten Sohnes 1936 erinnern soll. Buße? Vergeltung? Sadistisches Spiel?

Man folgt den vielen Erzählstimmen, die hier ein Detail aufgreifen, dort etwas hinzufügen, politischen Gegnern folgen, Personal zu Wort kommen lassen, die Familie Avendaño hier ein wenig entblößen, dort dem Tratsch hinzufügen, preisgeben, verraten, liebend entdecken. Ein Spiel, in dem es um Leben geht, um Geheimnisse, um politische Ideale, um Perversion von Liebe.

Was ist wahr, was ist erfunden? Semprún selbst taucht auf, sein erfolgreichstes Pseudonym Federico Sanchez benutzend, um weitere Fenster, weitere Spiegelgänge zu öffnen.

Und plötzlich spielt keine Rolle mehr, was wirklich geschah, wo die Realität aufgehoben, verbogen, umgeschrieben wird. Es ist einfach nur ein Tag im Haus voller Gäste, mit Feinden, die einander zur Strecke bringen wollen, philosophischen und literarischen Diskursen, deren Einfluss auf das Leben rundherum bestürzend dramatisch ist.

Kein Weiß und Schwarz, nur schillernde Grautöne. Keine Moral. Nur die Erkenntnis, dass Liebende in ihrem verzweifelten Verlangen Normen umgehen und damit Menschen verletzen, dass Diktaturen glücklicherweise endlich sind, dass Menschen zwar nicht aus ihren Fehlern lernen, aber Literatur als Hoffnungsträgerin immer wieder, manchmal genial, zu nutzen wissen.

Jorge Semprún, als Überlebender, als Politiker, als Schriftsteller ist ein überzeugendes Beispiel dafür.

Zwanzig Jahre und ein Tag

Von Jorge Semprún

Suhrkamp Verlag 2005,

292 Seiten, geb., e 20,40

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