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Nur Passierscheine?

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Zum erstenmal seit dem 13. August 1961 dürfen in diesen Tagen Westberliner ihre Verwandten im Ostsektor der deutschen Hauptstadt besuchen. Was sich bei dieser Gelegenheit an menschlichen Tragödien enthüllt, zeigt mehr als alles andere, welch fürchterliche Tat die Errichtung dieser quer durch die Stadt gezogenen Mauer war. Junge Eltern, die ihre Kinder am Vorabend der Mauererrichtung ahnungslos bei den Großeltern im Osten der Stadt gelassen hatten, Ehepaare und Brautleute, Eltern und Geschwister können sich zum erstenmal wieder in die Arme schließen. Für 16 Tage, vom 20. Dezember bis zum 5. Jänner geht der innigste Wunsch aller Betroffenen in Erfüllung. In der Freude des Wiedersehens geht das Wissen um manche Ehe unter, die das qualvolle, aussichtslose Warten nicht ausgehalten hat und in die Brüche ging.

Die Realität des kalten Krieges hat in diesen Tagen an der Mauer nur wenig von ihrer Unmenschlichkeit eingebüßt, auch wenn Wiedersehensglück der „Front“ ein etwas menschlicheres Aussehen gibt. Die Schüsse, denen am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertages der achtzehnjährige Ostdeutsche Paul Schultz, als er über die Mauer zu flüchten suchte, zum Opfer fiel, zeigen überdies die grausame Wirklichkeit. So wird man in Deutschland sehr bald schon gezwungen, seinen Blick von den menschlichen Problemen weg wieder auf die politischen zu richten. Nur von hier kann ja eine Lösung der verfahrenen Situation kommen.

Die Lage in Berlin ist durch die Ausgabe von Passierscheinen nicht viel einfacher geworden. Noch immer stehen sich die unvereinbaren Interessen von Ost und West gegenüber. Das eigentliche Ziel der ostdeutschen Regierung ist nach wie vor die internationale Anerkennung. Das größte Hindernis hierfür ist die westdeutsche Bundesrepublik, der es bisher gelungen ist, diese Anerkennung zu untertreiben. Sie hat die sogenannte Hallstein-Doktrin entwickelt, nach der jede Anerkennung Ostdeutschlands von Westdeutschland mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen beantwortet wird. Die einzige Ausnahme ist Rußland. Als Jugoslawien vor einigen Jahren mit Ulbricht diplomatische Beziehungen aufnahm, rief Bonn seinen Botschafter in Belgrad ab. Es hat damals eine heftige Diskussion um Wert oder Unwert dieser Doktrin gegeben. Sie ist aber heute noch Bestandteil der Bonner Außenpolitik. Diese Tatsache und die Erfolglosigkeit aller diplomatischen Offensiven Ulbrichts hat Ostdeutschland in eine gewisse Abhängigkeit von Westdeutschland gebracht. Eine irgendwie geartete Aussöhnung ist für die sogenannte DDR (Deutsche Demokratische Republik) der einzige sichere Weg zu internationaler Anerkennung. Die Situation des Ostzonenregimes ist insofern ungünstiger geworden, als Walter Ulbricht, der letzte Stalinist, auch im Osten an Ansehen eingebüßt hat. Daß er seine Mitbürger hinter Mauern mit Stacheldraht und Wachttürmen einsperrt, muß ihn in immer größere Verlegenheit bringen, je weiter Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien die Zustände an ihren Grenzen normalisieren. Ein Öffnen der Mauer. ist für Ulbricht unmöglich.

Das würde eine Fluchtbewegung zur Folge haben, an der sich aus der Furcht, die Falle könnte wieder zuschnappen, selbst Leute beteiligen würden, die unter normalen Umständen gar nicht an eine Flucht dächten. Nichts hat die DDR so diskreditiert, wie die Mauer, die für jeden, der sie sieht, einen schweren Schock bedeutet. Für Westdeutschland ist diese Mauer ein Beweis dafür geworden, daß man mit den führenden Männern von drüben, den „KZ-Wächtern“, wie sie in Westdeutschland oft genannt werden, nicht verhandeln dürfe.

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