Nur zwei, drei Zeilen

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Iwan Bunins "Ein unbekannter Freund" liegt in einer glänzenden Neuübersetzung vor. Gelegenheit, sich einzulesen in das Werk des russischen Nobelpreisträgers.

Vor 50 Jahren starb Iwan Bunin. Vor 70 Jahren erhielt er den Nobelpreis für Literatur und war damit der erste Russe, dem diese Auszeichnung zuteil wurde, der erste Verbannte. Und noch ein Jubiläum: Vor 100 Jahren zeichnete die Russische Akademie den damals 33-Jährigen für seine Übersetzung von Longfellows Versepos "Hiawatha" mit dem Puschkin-Preis aus. Seine eigenen meisterlichen Kurzgeschichten übersetzten später der englische Romancier D. H. Lawrence und Leonard Woolf, der Ehemann von Virginia Woolf.

Meisterleistung

Mit diesem Giganten der russischen Literatur, der Tolstoj noch kannte und mit Tschechow befreundet war, beginnt ein neuer Verlag sein Programm: Dörlemann. Sabine Dörlemann hat ihr Handwerk beim angesehenen Ammann Verlag in Zürich gelernt. Für den Erstling, Bunins Erzählung "Ein unbekannter Freund", konnte sie die berühmte Übersetzerin Swetlana Geier gewinnen, die Dostojewskij, Tolstoj, Solschenizyn, Platonow und Sinjaswkij hervorragend ins Deutsche übertragen hat.

Frau Geiers Version ist eine Meisterleistung: Präzis und zugleich schwebend. Die Geschichte kommt langsam in Fluss, auf Postkarten. Eine Frau, die sich in Irland fernab von Europa fühlt, kauft zufällig ein Buch, beginnt beiläufig zu lesen: "Und ich las, las und fühlte mich, ich weiß nicht, warum, fast qualvoll glücklich." Sie schreibt dem unbekannten Autor: "Ich lebe immer noch unter dem Eindruck von etwas Unerklärlichem und Unbegreiflichem, aber unendlich Schönem, das ich Ihnen verdanke - erklären Sie mir doch, was es ist, dieses Gefühl? Und was die Menschen überhaupt erfahren, wenn sie sich der Wirkung der Kunst überlassen?"

Obwohl der Schriftsteller nicht antwortet, öffnet sich die Frau ihm immer mehr und berührt mit ihren Fragen das Innerste des kreativen Prozesses. Wahre Schöpfungen erreichen den, der ihnen begegnet, auf geheimnisvolle Weise: "Sind denn Ihre Werke nicht dasselbe wie meine Briefe an Sie? Denn auch Sie teilen sich mit, auch Sie schicken Ihre Zeilen an jemand Unbekannten, irgendwohin in den Raum hinaus."

Im Lauf ihres einsamen Schreibens an den stummen Adressaten gewinnt diese Frau die Erkenntnis vom gewaltigen Unterschied zwischen bloßem Erzählen und jener Wort-Kunst, die tiefste Geheimnisse ans Licht hebt, zur Musik wird. Dafür braucht es nicht viele Worte: "Eigentlich beansprucht jedes menschliche Leben nicht mehr als zwei, drei Zeilen. O ja, nur zwei, drei Zeilen." Bunins Erzählung gipfelt in einem Traum der Frau von dem Unbekannten. Ihre Sehnsucht wird übermächtig, und da sie auf dieser Welt keine Erfüllung findet, baut sie in sich die Hoffnung auf ein Jenseits auf - ohne jeden religiösen Bezug.

Paukenschlag

Iwan Bunin war 50, als sein Leben den tiefsten Einschnitt erfuhr. Weitgereist, berühmt, weltoffen, und plötzlich, ab 1920, als er gerade noch per Schiff Odessa verlassen und nach Frankreich fliehen konnte, ein Verfemter. 13 Jahre später im Scheinwerferlicht in Stockholm: Die Eindrücke vom Rummel bei der Nobelpreisverleihung sind in dem neuen Buch auch enthalten. 83-jährig starb er verbittert in Paris. Die Heimat hat er nicht wieder betreten. Was für ein Paukenschlag einer Verlags-Eröffnung!

Ein unbekannter Freund

Von Iwan Bunin

Deutsch von Swetlana Geier

Dörlemann Verlag, Zürich, 2003

72 Seiten, geb., e 15,30

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