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Ob OedicJite notwendig sind

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Am Anfang möchte ich feststellen, daß ich keine Gedichte schreibe, nicht einmal den Drang dazu verspüre. Ich glaube, mit sechzehn Jahren habe ich eines versucht über eine Herbststimmung, bin aber in der zweiten Strophe steckengeblieben, weil ich den Reim nicht fand; und dabei blieb es.

Ich bin viele Jahre lang ohne Gedichte ausgekommen, und oft habe ich die Reimmacher bemitleidet wegen ihrer unfruchtbaren Mühe. Von tausend Gedichten, die geschrieben.werden, ist kaum eines, das mich ergreift.

Aber das sagt nichts gegen die Gedichte selbst, denn wenn es nur zwei oder drei wirklich gute Gedichte gibt, die uns etwas bedeuten, die ein neues Fenster in unserer Seele aufmachen, dann ist es wert, daß sich tausend Menschen drum bemühen.

E i n Gedicht trage ich immer in meiner Geldbörse bei. mir. Nicht als Talisman, sondern weil ich es mir oft zu Gemüte führen will und im Auswendiglernen schon sehr schwach bin. Den ganzen letzten Winter über habe ich zum Beispiel das berühmte Hölderlin-Gedicht bei mir herumgetragen, das so lautet:

Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist,

die Blumen und wo den Sonnenschein und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn sprachlos und kalt,

im Winde klirren die Fahnen.

Und wirklich habe ich niemals soviel Sehnsucht nach Blumen und Wärme gehabt und nie unter der Kälte so gelitten wie letzten Winter. Und wieviel Trost steckt do h in dieser Klage. Mit so einem Wort lebe ich monatelang und mein lyrischer Bedaif, wenn man so banal reden darf, ist damit gedeckt. Die vielen Gedichte, die mit sonst unter die Augen kommen, übersehe ich. Mir genügt die eine Perle.

Zwei Sommer lang trug ich Jas Gedi'-ht von Weinheber herum, das „Im Grase“ betitelt ist und so beginnt:

Glocken und Zyanen, Thymian und Mohn,

Ach, ein fernes Ahnen hat mein Herz davon.

Darin ist soviel Sommer und soviel Heimat und soviel echter Gesang, daß man zwei Sommer gut davon leben kann, und selbst im Winter stimm' ich es manchmal an. Dabei liebe ich Weinheber sonst nicht übermäßig, und Friedrich Sacher hat mir erzählt, daß dieses Gedicht ein halbes Plagiat eines älteren Gedichtes von ihm darstellt, worüber er sich aber mit Weinheber durch Aenderung einiger Blumennamen verständigt hat.

Ende August, Anfang September lebe ich dann ganz von den Versen von Rilke:

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg Deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren laß die Winde los.

Das ganze Werk von Rilke kann ich nicht vertragen und sein Wesen hegt mir nicht, aber etliche Verse sprechen mich an. Wenn ich vor meinen Rosen stehe, dann fällt mir das dunkle Rätselwort von ihm über die Rose, den reinen Widerspruch, ein und ich spreche meine damit an.

Gedichte soll man nicht lesen, sondern sprechen. Erst wenn man sie auswendig weiß, dann gehören sie uns. Wie gesagt, mir fällt es schon schwer, ein ganzes Gedicht fehlerlos herzusagen. Aber ich spreche sie mit dem Munde aus. Niemand hört mir dabei zu. Zweihundert Meter rund um mich ist keine Mcnschensecle, ich bin allein. Nur der Hund liegt vor mir auf dem Tcppich und er blinzelt mich verwundert an, wenn ich allzu laut deklamiere. Ich lese fortlaufend in den großen Anthologien und finde, zumal unter den Ausländern, wunderbare Verse. Mit welcher Naivität und seherischer Sicherheit formt Peguy seine verblüffenden Verse. Zu Weihnachten fällt mir immer der Vers von Elliot ein; „Wir haben unsere Geldmittel (zu Weihnachten) weit überschätzt und uns, leider durchaus vergebens bemüht, all die Unsrigen zu lieben.“

Welche Einsichten finden sich bei Rimbaud und Baudelaire.

Welche Traurigkeit liegt in den Versen von Trakl.

Ich fuhr einmal mit dem österreichischen Dichter Viktor Buchgraber im Triebwagen von Graz nach Wien und wir sprachen über Dichtungen. Da zog er ein kleines Notizbüchlein aus der Tasche und las mir ein Gedicht vor. In diesem Buche hatte er jene Gedichte von allen möglichen Dichtern stenographisch abgeschrieben, die ihn besonders ansprachen. Welche Ehrfurcht eines Dichters vor den Werken der anderen ...

Im schlimmsten Abschnitt des letzten Krieges fuhr ich einmal mit der Badener Elektrischen nach Wien. In Inzersdorf wurde ich durch den Strom der im Wagen Eingequetschten neben einen Fremdarbeiter geschoben, der in einem zergriffenen handgeschriebenen Büchlein las. Aber mit welcher Ergriffenheit, welcher Ekstase. Zuerst schien es mir, daß er bete, dann erkannte ich, daß er Gedichte las. Welch ein Gegensatz zu seinem zerfetzten Kleid und seinem elenden Gesicht. Man sah, durch das Wort der Dichter war er in eine andere, schönere und reinere Welt entrückt. Das Gedicht war ihm nicht mehr Aesthetik, sondern Existenz.

In der Schule haben wir seinerzeit Gedichte auswendig lernen müssen. Wenn ich auch das meiste vergessen habe, etliches fällt mir doch gelegentlich ein. Ich höre, heute tut man das nicht mehr aus irgendwelchen neuen pädagogischen Erkenntnissen, die ich nicht verstehe. Wie der Wanderer zwischen beiden Welten habe ich aber von manchem Soldaten gehört, daß er tote Stunden damit erfüllte, indem er Gedichte lernte.

Ich pflege das dichterische Wort in der Gemeinschaft auf eine sehr primitive Art. Wenn ich zu den Festzeiten, besonders um Weihnachten herum, in den Familien Andachten halte, dann schließe ich gewöhnlich einen unterhaltenden Teil daran und lass' die Kinder Gedichte und Lieder aufsagen, und manchmal steht auch ein Erwachsener auf und sagt eines auf. Lind das Gedicht erbaut die ganze Runde.

Ich höre gerne im Radio Deklamationen, nur mag ich die LIebertreibungen nicht, die falsche Pose, das Wortgeklingel. Wenig Schauspieler sprechen gut.

1 Ja, und selber deklamiere ich auch, aber nur vor meinem Hund und in der Nacht oder am Sonntag, zur festlichen Stunde.

Ich glaube, wir brauchen das Woift des Dichters, den gütigen erlösenden Vers. Die Welt wird ihm immer feindlicher, die lebenden Dichter haben es immer schwerer, aber ich stell' mir vor, was mir entginge, wenn ich das Hölderlin-Wort von den klirrenden Fahnen im Winter nicht v,üßte oder das Rilke-Wort vom verlorenen Sommer, und daß Rimbaud gesagt hat, es kommt die Zeit der Mörder oder das Goethe-Wort von der Ruh über den Gipfeln. Wir brauchen sehr wohl das Wort der Dichter in dieser dürftigen Zeit.

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