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ODYSSEUS AUS SCHAFFHAUSEN

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„Nur den Eingeweihten leuchtet lachend die Sonne.“

(Aristophanes)

Wohnung zu nehmen auf dem Meere für ein paar Wochen, das hat mich verlockt, nicht viel mehr. So habe ich diese Fahrt angetreten wie die meisten unserer Zeitgenossen auf Reisen gehen: unbeschwerten Geistes — ohne viel Vorbereitung — und mit der Absicht, Urlaubstage mit fremdländischen Reiseerlebnissen auszufüllen, mit dem wachen Auge unserer technisierten Zeit die südliche Welt zu schauen (mehr ganz als in Trümmern, wenn Torsi, dann vollkommen gewordene in ihrer fragmentarischen Schönheit). Aber war ich nicht doch übervoll von Gedanken und Bildern der Journale, der Kinoleinwände, der Ausstellungshallen und Modesalons, belastet mit dem Leben in dieser Zeit, mit dem Stigma der Nievollendbarkeit unserer Persönlichkeit und nicht zuständig für ein Glück, das in einer seelischen Geborgenheit und geistigen Erfülltheit läge — und das uns nur Traum bleibt?

Auf 'dieser schwankenden Wohnstatt wollte ich langsam im Nichtstun, im Atemholen zwischen Meer und Himmel wieder ruhig sein und einfach werden und empfänglich für das Unsterbliche unter dem Sterblichen. Man muß die Götter nicht suchen, sagt Cocteau, man begegnet ihnen auf der Treppe, wenn man reinen Herzens ist.

So stand ich also vor dem Zollbeamten in Venedig und, früh auf dem Schiff, ließ ich Männlein und Weiblein vor meinen neugierigen und abschätzenden Blicken Revue passieren, während sie hintereinander über die Schiffstreppe aufstiegen. Mit ihnen würde ich nun ein paar Wochen gemeinsam auf einer Kreuzfahrt zwischen den griechischen Inseln verbringen.

Es sind viel mehr Ältere als Junge unter ihnen und gewiß einige, denen die Grundlagen der abendländischen Philosophie selbstverständlich sind. Viele von ihnen wollen an diesen Stellen gewesen sein, wo das „Große“ geschehen ist; sie wollen die Bilder vollkommnen, die sie halb und in Stücken in ihrem Kopf tragen. Die meisten freilich wollen nur dem trüben Norden entflohen sein, der Sonne zuliebe und nicht Helios, den warmen Fluten zuliebe und nicht Poseidon oder gar den Najaden. Man kann es ihnen nicht verargen. Wenn die See bewegt ist, dann geben sie gewiß nicht Poseidon die Schuld.

Das Schiff schwingt sanft, die See ist glatt. Die erste Mahl-leit ausgiebig und ordentlich, der Wein, es muß nicht der geharzte sein, angenehm zu trinken. Der Mond liegt wie Gold auf dem Meer und der Kiel des Schiffes schneidet es zu tausend blinkenden Splittern.

Die abendliche Ausfahrt aus Venedig, an San Giorgio vorbei, den öffentlichen Gärten, dem Lido, in die faulig-süß riechenden Lagunen hinaus, gestaltet sich jeweils zu einem prächtigen Schauspiel. Wenn in Abständen die tausend Lichter der Ufer aufflammen, getragene Musik das fast schwebende Schiff geleitet, als gelte es den Triumphzug einer Königin (ähnlich trägt man in Sevilla die Pasos bei den nächtlichen Prozessionen), so wünscht man sich fast nichts mehr. In diesem Hochgefühl ist man voll Erwartung oder leicht verhaltener Sehnsucht. Was hilft's, von dieser Betrachtung über die Weite von Himmel und Meer werden wir in die erleuchteten Speisesäle gerufen, und hier soll uns die Versicherung zukommen, daß wir uns wohlfühlen werden. Bescheidene Menschen haben recht bald das Gefühl des Luxus. Wieder empfiehlt sich nach einer gewissen Opulenz des Mahles das Vertrauen in die Heilkraft des Weines, den man nur in den südlichen Ländern so billig und so sorglos zu sich nimmt.

Achtundvierzig Stunden der Passage nach Brindisi. Man befreundet sich mit dem Leben an Bord. Ein glückliches Wetter, die Fläche des Meeres wie Seide. Das Leben ein Spiel: Geschicklichkeit, Tauringe von ferne über Holznägel auf einem Nagelbrett zu werfen, Geschicklichkeit des Navigators, und schließlich die Wetterlage, sie bauen das Schicksal.

Man verspricht uns, weil wir gut vorwärtskommen, an Korfu vorbeizufahren und die Meerenge von Ötranto zu passieren. Aber es soll Mitternacht werden, und außer einigen jugendlichen Tänzern und Tänzerinnen haben nur Homer-Begeisterte die Geduld, aufzubleiben.

Neben mir im Lehnstuhl sitzt ein älterer Herr aus Schaffhausen; er raucht eine Zigarre und erhellt so immer ein wenig die Dunkelheit. Er war mir von Anfang an sympathisch. Er handelt mit Baustoffen. „Wissen Sie“, sagt er, rührend unvermittelt, „das Odysseus-Problem, ich meine seine Begegnung hier mit der ballspielenden Nausikaa, das begleitet mich ein ganzes Leben — und vielen wird es so gehen hier, ohne daß sie es wissen.“ „Hm“, finde ich nur und bin gespannt auf die weiteren Ausführungen des redseligen Herrn. „Immer wieder“, setzt er schmauchend fort, „führt Homer den erfahrenen Mann mit dem liebenden Mädchen zusammen, und immer wieder vergißt der Mann, daß er gebunden ist, und läßt sich verwirren von der neuen Art hingebungsvoller Verehrung. Er glaubt, noch nie so geliebt worden zu sein wie von Nausikaa. Sie ist unerschöpflich im Erfinden neuer Spiele um die Liebe und ihr Verbergen, ihre Einfälle bezaubern ihn, ihr Schritthalten, ja ihr Ihn-Über-holen und Zurückkehren. Und wie sie sich offen und gerade in ihrem Wesen gibt, so wie sie ist, wie es vor allem die südländischen Frauen haben!“

Ich werfe ein: „Sie haben recht“, um etwas zu sagen und seine Redseligkeit nicht zum Erliegen zu bringen. Dann denke ich, daß ich auch einmal ein Theaterstück versucht habe um dieses Problem. Es war nach außen gewiß zuwenig dramatisch, denn alles hat sich innen vollzogen. Ich habe meinen Weltenfahrer Ulysses durch Nausikaa-Elisa hindurchgehen lassen wie das Licht durch ihre jugendliche Einsamkeit, die Sonne, 'die sie noch beglückt, da sie schon andern scheint.

Und als ob er meine Gedanken im Glutschimmer seiner Zigarre mir von der Stirn gelesen habe, setzt er wieder an. Ich merke, es wird ein Bekenntnis, aber er sagt es ganz leicht, ohne besondere Betonung. „Sehen Sie, diese Reise habe ich angetreten, weil ich sie verlassen mußte.“ Ich warte auf eine Erklärung. „Nausikaa“, setzt er fort, „es tut nichts zur Sache, wie sie heißt. Sie hat übrigens einen ordentlichen Beruf, ist Magistra und wird nächstens eine Apotheke übernehmen. Ich mußte sie verlassen“, wiederholt er. „Es ist wegen meiner Ehe.“ „Penelope“, ergänze ich lächelnd. „Ja, wir sind Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts und haben es beide bald eingesehen, daß wir uns trennen mußten.“

Aber nun scheint doch Land näherzukommen. Auch mein Schaffhausener Nachbar schweigt. Ich strenge meine Augen an, um ein paar Lichter auszunehmen, die an der Küste der sonst dunklen Insel der Phäaken flackern wie Sterne. Oder sind es Nachtschwärmer, die bei Alkinoos geladen waren? Sie kehren nun heim vom Feste in seiner Residenz, die noch alles Licht bei sich versammelt. „Da, da muß sie stehen“, sage ich plötzlich laut, und mein versponnener Nachbar fragt nicht „Wer?“. Wir stören einander nicht, Nausikaa, denke ich, hat ihre Honneurs gemacht, nicht aufdringlich, bloß mit der Grazie ihrer selbstverständlichen Bewegungen. Aber ihre gehemmte Sprache...

„Wissen Sie“, sagt plötzlich der Schaffhausener, während die Lichter langsam verschwinden. Wir dürfen nicht halten. „Nicht daß meine Ehe einfallslos geworden wäre, aber welchen Empfindsamen quält nicht der Morgen ohne neue Zeichen und Aussicht auf Wunder... Da sind nur die Gedanken, die auszusprechen man müßig findet.“

Ich wieder: „Und dann ist er in den Krieg gezogen als Held.“

„Von fern sehnt er sich jeden Tag in die Heimat. Ihm kommen wieder die ersten Jahre des Glücks zum Bewußtsein und die späteren des Einander-Verstehens.“

„Und hat mißglückte Abenteuer, weil er immer nur in die Ferne sieht.“

„Ach, Odysseus, Sie haben recht. Als ob er immer nur die Liebe suchte und nie den Gegenstand der Liebe.“ „Erst von der Ferne...“

„Ja, so ist es.'“ Mein Nachbar tut, als strecke er sich, als habe er zuviel gesagt, aber insgeheim glaube ich, öffnet er die Arme weit, um das Glück einzuladen, das er immer wieder sucht und vermutlich nicht erkennt. Oder war es nur, weil es bei ihm nicht blieb, nicht bleiben konnte?

So war er also wieder auf der Flucht. „Ich glaube, wir müssen schlafen gehen“, fand er am Ende, da er die Arme wieder schloß. Die Zigarre war ausgebrannt. Er warf den Stummel ins Meer, das immer noch um uns war. Unermüdlich bewegt, leise rauschend.

„Ich denke auch“, sagte ich, und wir verabschiedeten uns.

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