6756048-1967_46_11.jpg
Digital In Arbeit

Odysseus kehrt heim

Werbung
Werbung
Werbung

DIE SCHRIFT AN DER WAND. Von Günther Anders. Tagebucher 1941-1946. 430 Selten. Verlag C. II. Beck, München, 1967. DM 24.—.

Im Jahre 1950 entdeckt der soeben aus amerikanischer Emigration zurückgekehrte deutsche Philosoph Anders auf einer Hauswand in Paris, eingekratzt in den Mörtel, die Worte: „Juda ver-“ (der Rest war fortgeschossen) nebst den Initialen: „L. N. aus Göppingen“. Und er stellt, in seinem Tagebuch den Fund kommentierend, die bange Frage: Was treibst du nun, L. N. Kratzt du schon wieder? — Wer bis zu dieser Stelle in dem erst jetzt erschienenen Tagebuch gelesen hat — (es stellt einen thematisch bedingten Auszug aus den seit einem Viertel Jahrhundert vom Autor geführten philosophischen Tagebüchern dar) —, ist über die verzweifelte Resignation, die sich darin ausdrückt, ehrlich erschüttert. Man hat auf den vorausgegangenen hundert Seiten so vieles Schrecklich-Schöne und Entsetzlich-Wahre vom Schicksal des Autors erfahren, sich denkend und fühlend mit ihm in solcher Übereinstimmung gefunden, daß man nicht mehr daran dachte, wer solchen Bürgern, die als der Stolz des Landes gelten mußten, so schrecklich mitgespielt hat. Man möchte ihm gerne antworten, daß alles doch ganz anders geworden ist und kein Anlaß zu so furchtbaren Vermutungen besteht. Doch weiß man es besser, weiß, daß „Die Schrift an der Wand“ trotz 1967 der rechte Titel ist, der andernfalls eine Beleidigung und Herausforderung wäre.

Für dieses Tagebuch müssen wir dankbar sein. Es sind nicht viele, denen Gott in solcher Weise gab, zu sagen, was sie unter ihrem ungeheuren Schicksal litten. An artistischem Wert ist es neben die Tagebücher von E. Jünger und M. Frisch zu stellen. Es übertrifft diese noch an künstlerischer Notwendigkeit. Wenn in einem neueren Literatur-geschiohtswerk die Tagebuchflut der Nachkriegszeit als ein Beweis für die schöpferische Ohnmacht der Zeit hingestellt wird, so mag dieses Urteil für viele nicht zu hart sein. Für Anders gilt es nicht. Denn zweifellos ist die legitimste Form dieser Art Dichtung das Reisetagebuch. Der Reisende kann nicht viel mehr tun als ein Tagebuch führen. Er hätte denn zu Hause bleiben können. Anders konnte nicht. Sein Emigrantenschicksal hat er sich nicht ausgesucht. So kommt denn seine Kunst zweimal von „müssen“. Das äußere „Muß“ erzwang ein inneres. Hier war Kunst wirklich Not wendend, also notwendig. Und entscheidend ist das, was das Nachbild dieser Dichtung in der Seele des Lesers prägt.

Doch vom Inhalt. Das Buch hat seinen Mittelpunkt am Ende, im letzten Kapitel, wo der Autor, ein geborener Breslauer und Sohn eines Universitätslehrers, seinen Besuch in der Geburtsstadt schildert, die er 1966, nach genau 50 Jahren Abwesenheit, wiedersieht. Nur „Text-minima“, Keime für sein späteres Tagebuch, kann der Dichter von dem kurzen Aufenthalt „im Hades“ nach Hause mitnehmen. Doch formt ei dann aus dem Wenigen ein ergreifendes Epos, die, aus tausend wuchernden Erinnerungen genährte wunderbare Geschichte seiner Kindheit und Familie, der jüdischer Familie, die nicht deutscher hätt sein, leben, gedacht und gefunder werden können im damaligen deutschen Breslau. Die vorangestellter sieben, den „Besuch“ gleichsam vorbereitenden Kapitel, zeichnen der Weg, der in 25 Jahren von Los Ange-

les über New York, Paris, Wien und Berlin bis dorthin zu gehen war, wo der Kreis dieser wahren Odyssee schloß. Überzeugender noch als bei Max Frisch, der ja auch von außen kam, die hellsichtige Diagnose des Weltreisenden, der Europa in seiner ganzen, durch die Kriege verursachten Rückständigkeit sieht: Paris und Wien, aus Metropolen zu Kleinstädten geworden, die im alten Prunk ihrer Anlage die Ahnungslosigkeit zur Schau zu stellen scheinen darüber, wie bedeutungslos sie geworden sind.

Wie das Leben diesem Leidenden die Augen geöffnet hat! In welche Tiefen-es ihn blicken ließ, kann man nur ahnen. Man begreift nicht recht, daß die Erfahrungen eines so ungewöhnlichen Schicksals uns nicht noch verwunderlicher dünken, wenn man sie uns mitteilt. Es ist, als hätten wir immer schon gewußt, daß — zum Beispiel — Menschen, die von Land zu Land fliehen, am Ende kein vita, sondern nur vitae, Leben im Plural, haben, was weniger ist als Leben und daß Arithmetik hier also nicht zuständig ist, oder, daß es „cogitor ergo sum“ heißen muß, weil erst derjenige, an den nicht gedacht wird, wirklich nicht ist. Daß dieser Dichter für ein anderes Leben, als ihm zugefallen, gemacht war, fühlt man, spürt es an der Art, mit der er alles gewaltsam Aufgerissene in seinem erzwungenen Leben durch Denkkraft zu schließen sucht, spürt, wie wenig sein Wesen dazu angelegt ist, in Zerrissenheit zu existieren. Stets wird der ungeheure Sachverhalt ganz unprätentiös, kühl philo-

sophierend, dargestellt und erweckt wohl gerade deshalb im Leser echtes Mitgefühl, ja Mitleiden. Plötzlich springt man auf, wandert mit zusammengepreßten Lippen im Zimmer herum und möchte es nicht wahr haben, daß durch dieses späte Buch erst die Nachricht vom körperlichen und seelischen Untergang dieses Volkes uns wirklich ganz bis ins Innerste gedrungen ist.

Man liest das Buch nicht wie die Memoiren eines einzelnen. Die geschilderten Erlebnisse sind, bei aller Einmaligkeit der darüber geäußerten philosophischen Gedanken, dennoch typische. Daß sein Verfasser ein deutscher Schriftsteller ist, muß man betonen. Und man müßte es mehr betonen, als daß er auch Jude ist. (Nur Borniertheit könnte die unter „Entdeutschung“ geschriebenen Seiten, auf denen die Rechtlichkeit der Verwandlung Breslaus in Wroclaw bestätigt wird, als von einem Juden stammend, abtun oder erklären. Jaspers und jeder andere ehrliche Deutsche würde nicht anders darüber schreiben.) Nach der gründlichen „Entdeutschung“ der deutschen Juden durch die Deutschen selbst dürften wir freilich von solcher Auffassung weiter entfernt sein als je. An dem deutschen Schriftsteller Anders kann dies freilich nichts ändern, der von sich selbst sagt: .. daß es mir unmöglich gewesen wäre, meine Empörung über das, was in Deutschland vor sich ging, und was man uns und anderen und sich selbst und auch der deutschen Sprache antat, anders als auf Deutsch herauszuschreien — selbst verstummen kann ich vermutlich nur auf deutsch.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung