Kundera - © Foto: gemeinfrei

Milan Kunderas Roman "Die Unwissenheit": Odysseus war ein Tscheche

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Aus dem FURCHE-Navigator: Milan Kunderas Roman "Die Unwissenheit" zeigt, dass es nicht einmal der Emigration bedarf, um ein Fremder zu werden.

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Aus dem FURCHE-Navigator: Milan Kunderas Roman "Die Unwissenheit" zeigt, dass es nicht einmal der Emigration bedarf, um ein Fremder zu werden.

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Milan Kundera ist fast schon ein Klassiker und darf vieles. Er muss keine Geschichte erzählen, wenn er einen Roman schreibt, nicht auf die Wucht des Erzählstroms vertrauen. Und doch mündet der Strom im Meer: Odysseus wird zu einem Tschechen, auch wenn Böhmen nicht am Meer liegt. Bei Kundera hat das Vermeiden des Erzählens nichts mit mangelndem Selbstbewußtsein zu tun, es gehört zu seinem Kanon.

In seinem neuen Roman "Die Unwissenheit" steht das Thema der Emigration im Mittelpunkt. Die Geschichte beginnt kurz nach dem Ende des Kommunismus. Irena, die nach der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings ins Exil gegangen ist, sitzt in Paris, und ihre Freundin stellt nur eine Frage, die mit einer ungeheuren Wucht die Wand zu einer neuen Heimatlosigkeit niederreißt: "Wieso bist du noch hier". Ab diesem Zeitpunkt steht in Irenas Gedächtnis geschrieben: "Die Große Rückkehr". Wo ist die Heimat? Wieviel zählen zwanzig Jahre? Und was hat sich in der ehemaligen Heimat verändert? Wie begegnen die Daheimgebliebenen denen, die ins Exil gegangen sind? Das sind die Fragen, die die Figuren quälen. Während die Bücher der Emigranten der Nazizeit noch geschrieben und gelesen werden, hat die Geschichte längst für Nachschub gesorgt. Kunderas Roman macht dies deutlich.

Mit Bedacht regelt Kundera den Erzählstrom, als würde er der Geschichte nicht vertrauen, und seine Einschübe sind wie Quellfassungen, um unterirdische Ströme anzapfen zu können und deren Macht in Anspruch zu nehmen. Nach einigen begrifflichen Klarstellungen über Rückkehr und Nostalgie steht Odysseus in der Tür: "Die Odysee, das Gründungsepos der Nostalgie".

Doch gibt es diese Nostalgie auch bei Irena? Nach dem Besuch der Mutter in Paris kommen dieser Zweifel. "Sie hatte es immer als eine Gewissheit betrachtet, dass ihre Emigration ein Unglück war. Aber, fragt sie sich in diesem Augenblick, war es nicht vielmehr eine Illusion von Unglück, eine Illusion, suggeriert von der Art und Weise, wie alle Welt einen Emigranten wahrnimmt? Las sie ihr eigenes Leben nicht nach einer Gebrauchsanweisung, die die anderen ihr in die Hand geschoben hatten?"

Kundera erzählt, wie könnte es anders sein, die Geschichte ohne Klischees, denn Emigranten verzehren sich nicht immer nur nach der Heimat, sondern die Flucht war oft auch eine Möglichkeit, der Familie zu entrinnen. Im Fall von Irena war es die vitale Mutter, der sie zu entfliehen trachtete. Nach dem Tod ihres Mannes hat Irena den Schweden Gustav kennengelernt. "Sie war betört von seiner Güte ... Damit bezauberte er die Frauen, die zu spät begriffen, dass diese Güte weniger eine Verführungs- als eine Verteidigungswaffe war."

Irena und Odysseus haben einiges gemeinsam, denn beide pflegen ihre Erinnerungen nicht, reden nicht darüber und daher entleerte sich ihre Erinnerung in dem Maße, in dem ihre Nostalgie wuchs, denn auch das Gedächtnis will trainiert werden. Beide warten schließlich, heimgekehrt, auf das Wort der Daheimgebliebenen: "Erzähle!"

Dieses Wort bleibt aus und daher die Heimat und ihre Bewohner fremd. Denn die können wiederum nicht verstehen, dass die Emigranten weggegangen sind, ohne die geringste Hoffnung, zurückzukommen, und verzweifelt in den neuen Ländern Wurzeln schlagen wollten.

Auch Josef, inzwischen Tierarzt in Dänemark, muss die Erfahrung machen, dass er nicht einmal für seine Familie in Tschechien mehr existiert. Die vom Regime aufgezwungene Vorsicht beim Kontakt mit Verwandten im Ausland hat sich in aufrichtiges Desinteresse verwandelt.

Josef trifft Irena bei der "Rückkehr", irgendwann haben sie sich gekannt und sie reden, als würden sie sich kennen und verabreden sich, doch die Details ihrer Vergangenheit bleiben im Dunkeln. Auch hier fehlt die Aufforderung zum Erzählen. Die Emigration beschleunigt das Fremdwerden, doch dafür bedarf es gar nicht der Entfernung. Auch wenn er wollte, könnte Kundera kein großes Epos der Rückkehr mehr schreiben, räumt er ein: "Der unsichtbare Riesenbesen, der Landschaften verändert und entstellt, ist seit Jahrtausenden an der Arbeit, aber seine einst langsamen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen haben sich derartig beschleunigt, dass ich mich frage: wäre die Odyssee heute denkbar?"

Josef besucht seinen Bruder, Ressentiments werden als Aperitif serviert und Josef entdeckt Teile seiner Wohnungseinrichtung, die er damals ohne Vorbereitung verlassen hat, in der des Bruders wieder. "Nimm dir, was du brauchen kannst", hat er ihm auf einer Karte geschrieben. Dabei war auch sein Lieblingsbild. Von Rückgabe ist bei der "Rückkehr" nicht mehr die Rede. Der Autor schafft mit dieser Episode eine wunderbare Paraphrase auf die Arisierungen und die verweigerte Rückgabe, dies ist auch eines der bedrückendsten Kapitel des Buches.

Josefs Entschluss, das Land zu verlassen, war aus pragmatischen Gründen gefallen. "Nicht, dass er nicht dort hätte leben können. Er hätte in aller Ruhe Kühe verarzten können. Aber er war allein, geschieden, kinderlos, frei. Er hatte sich gesagt, dass er nur ein Leben hatte und dass er es anderswo leben wollte." Als er das Haus des Bruders im August 1968 mit einer großen roten Fahne gesehen hatte, stand sein Entschluss fest.

Josef leidet ebenfalls an einer Nostalgie-Insuffizienz. Als er ein Paket von seinem Bruder mit seinem Tagebuch und Zeichnungen bekommt, hat er wenig Lust, wieder in seine Jugendjahre einzutauchen. Penibel hat er seine Liebe zu einer Schülerin notiert, die er mit einer Lüge auf den Lippen verlassen hatte. Und diese Lüge ist auch seine einzige lebendige Erinnerung an diese Phase seines Lebens.

Josef und Irena knüpfen kurz an die vor zwanzig Jahren abgebrochene Liebesbeziehung an, treffen sich und tauschen ihre Einschätzungen der Rückkehr in die Heimat aus. Die Emigration wird zu einem Katalysator. "Erst wenn man nach einer langen Abwesenheit in die Heimat zurückkehrt, fällt einem auf, was offensichtlich ist: die Leute interessieren sich nicht füreinander, und das ist normal". Josef erinnert sich an seine verstorbene Frau. "Es ist unmöglich, eine Liebe noch einmal zu erleben, wie man ein Buch noch einmal liest."

Josef und Irena haben die Odyssee gelesen und erleben gemeinsam eine letzte erotische Seance, sie lieben sich, als wollten sie alles zusammenfassen. Josef weiß, daß ein Leben mit Irena die letzte Gelegenheit seines Lebens ist, sich nützlich zu machen, "jemandem zu helfen und inmitten dieser Menge von Fremden, mit denen dieser Planet übervölkert ist, eine Schwester zu finden". Trotzdem fährt er zum Flughafen.

Ein bisschen hat sich der Autor aus der Verantwortung gestohlen, etwas ratlos lässt er den Leser zurück. Nicht, weil er das Happy End verweigert, es ist eher die Verweigerung eines Endes, was schmerzt.

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