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Oliver Rathkolbs äußerst lesenswerte Geschichte Österreichs seit 1945.

Österreich lebt mit und in seiner Geschichte. Und trotzdem wurden Teile der jüngsten Geschichte lange ausgeblendet. Das Bemühen der Zeitgeschichteforschung, diesem Manko zu begegnen, hat jedoch nicht nur mit einer moralischen Verpflichtung zu tun, sondern ist notwendig für eine Standortbestimmung im Heute. Wie die Auseinandersetzung mit der Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus als Basis für eine Analyse der gegenwärtigen politischen Situation genützt werden kann, zeigt der Historiker und Direktor des neuen Ludwig Boltzmann-Instituts für europäische Geschichte, Oliver Rathkolb, in seiner Publikation "Die paradoxe Republik". Er wagt einen großen Sprung von der Vergangenheit bis in die Gegenwart.

Paradigmenwechsel

Rathkolbs Geschichte Österreichs zwischen 1945 und 2005 markiert einen längst fälligen Paradigmenwechsel in der Zeitgeschichte, insofern der Autor das Analysefeld der Forschung über die Besatzungszeit bis in die Gegenwart ausweitet. Keine langweilige Chronologie bietet der Autor, sondern er setzt in zehn Kapiteln thematische Schwerpunkte und macht deutlich, wie mühsam der Weg Österreichs in die Moderne war.

Über die österreichische Identität, die Eigenheiten der Demokratie, die Wirtschaftspolitik und die Medienlandschaft bis hin zu Neutralität und Kultur reicht der Bogen. Dafür bedarf es einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein, doch mit diesem profunden Wissen und dem nötigen Interpretationsrahmen ist es möglich. Was Ernst Hanisch mit seiner Gesellschaftsgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert "Der lange Schatten" begonnen hat, setzt Oliver Rathkolb fort. Strukturgeschichte wird zu einem faszinierenden Abenteuer des Mitdenkens und Wiedererkennens und lässt selbst die aktuellsten politischen Ereignisse in einem neuen abgeklärten Licht erkennen.

Was ist nun aber paradox an dieser Republik? Zum Beispiel der Bezug auf die Vergangenheit, obwohl nur acht Prozent angeben, über den Zweiten Weltkrieg regelmäßig zu sprechen. Der Rückbezug betrifft zum Beispiel auch das kulturelle Erbe bei gleichzeitiger Fokussierung auf das unmittelbar Österreichische. Das große Erbe der Monarchie und des Vielvölkerstaates wird auf das Kernland reduziert und gleichzeitig das Lernpotenzial, das das Beispiel der Integration vieler Nationalitäten bietet, ausgeklammert.

Das Österreichische

Austro-Solipsismus lässt nationalstaatliches Denken und Selbstverständnis stärker denn je werden, während doch eine europäische Dimension des Denkens notwendig wäre. Österreich stimmt für den eu-Beitritt und trotzdem ist die nationale Identität seit 1989 noch stärker nach innen verengt worden. Die exklusiv nationale Identität boomt und "findet noch keinen festen Platz im europäischen Diskursraum".

Gibt Denkarbeit auf

Viele Paradoxien tun sich auf. Und mit Untersuchungen und Studien in der Hinterhand bietet Rathkolb Material für diese Strukturgeschichte und scheut sich nicht, Tabus zu brechen, etwa in der Darstellung des Konfliktes zwischen Kreisky und Wiesenthal. Die Frage nach dem autoritären Charakter ("der starken Kontinuität autoritärer Codes") ist selten so auf den Punkt gebracht worden, wenn er betont, was die Wahlergebnisse zeigen: "Autoritäre Neigungen waren bei Wähler/innen der spö an erster Stelle bei jenen Themen zu finden, die einen Hang zur Konvention, zum Irrationalismus signalisierten sowie latentes Aggressionspotential gegen Randgruppen und Minderheiten beinhalteten", wobei die spö-Kernwähler sich hier sogar noch vor fpö-Anhängern outeten. Dieses autoritäre Potenzial wurde durch die "Sicherheitspackung des Wohlfahrtsstaates mit einer aktiven Arbeitsplatzsicherungspolitik" unter Kreisky zurückgedrängt. Das gibt Denkarbeit auf.

Keine Tabus

Neben Tabubrüchen erfolgt auch so manche Redimensionierung, zum Beispiel des Mythos des Wirtschaftswunders, Stichwort Kaprun: nur der Fleiß der Österreicher - die Frauen werden dabei gerne auch heute noch übersehen - wäre alleine für den Wirtschaftsaufschwung ausschlaggebend gewesen. (Und die Wirtschaftshilfe wird dabei nicht in Rechnung gestellt.)

"Die paradoxe Republik" ist ein besonders lesenswertes Buch, das in der Betrachtung die nationalstaatliche Enge abstreift und dem Leser wirklich neue Perspektive eröffnet - und Österreich schärfer sehen lässt.

Die paradoxe Republik.

Österreich 1945 bis 2005

Von Oliver Rathkolb

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005

462 Seiten, geb., e 26,70

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