6587624-1952_05_01.jpg
Digital In Arbeit

Österreichische Existenz

19451960198020002020

Wer die letzten Haltungen eines Volkes nicht berücksichtigt, weist sich, mag er noch so sehr „"ealist“ sein, als Phantast aus. Wer die Völker Europas nicht als lebendige Wesen begreift, deren leise Verwahrungen ernster zu nehmen sind als viele laute Proklamationen und Programme, der wird sie nie wirklich zusammenführen. Als ein Beispiel will so der folgende Aufsatz genommen werden; die von uns mit angestrebte neue Begegnung und Zusammenarbeit Österreichs mit Deutschland in Europa ist bedingt durch die Einsicht in die Eigentümlichkeit des österreichischen Wesens, das, wenn es ehrlich ia sagen können will zu andeier Art, auch ein Nein wagen muß: „So bin ich, und nicht anders.“ „Die österreichische Furche"

19451960198020002020

Wer die letzten Haltungen eines Volkes nicht berücksichtigt, weist sich, mag er noch so sehr „"ealist“ sein, als Phantast aus. Wer die Völker Europas nicht als lebendige Wesen begreift, deren leise Verwahrungen ernster zu nehmen sind als viele laute Proklamationen und Programme, der wird sie nie wirklich zusammenführen. Als ein Beispiel will so der folgende Aufsatz genommen werden; die von uns mit angestrebte neue Begegnung und Zusammenarbeit Österreichs mit Deutschland in Europa ist bedingt durch die Einsicht in die Eigentümlichkeit des österreichischen Wesens, das, wenn es ehrlich ia sagen können will zu andeier Art, auch ein Nein wagen muß: „So bin ich, und nicht anders.“ „Die österreichische Furche"

Werbung
Werbung
Werbung

I.

Das Nestroy-Jahr ist zu Ende. Es ist eigentlich recht sang- und klanglos verlaufen. Wir haben vergeblich auf die große, umfassende Würdigung gewartet, die das ureigenste Heimatland einem «einer größten uęd. wie uns scheint echtesten Söhne schuldig gewesen ware Wir Jiaben manchen klugen Essayspiitter gelesen, die eine oder andere sehr saubere und gewissenhafte theatergeschichtliche Reminiszenz. Wir haben, wie nicht anders zu erwarten, auch die Reklamie- rung Nestroys als Vorläufer der heutigen totalitären Linken zur Kenntnis genommen. Und wir warten immer noch auf d e wirklich gültige, populäre und wissenschaftlich fundierte Arbeit eines Berufenen über den Dichter. Uns kommt es zur verspäteten Stunde auf etwas anderes an: auf ein Bekenntnis zu Nestroy als heute noch Gültigem, auf eine confessio des sudefendeutscben Alt-Österreichers mit dem heute wie einst naiven Glauben des Provinzlers und Randbewohners an die „Capitale“, die geistig-menschliche Strahlungsquelle Wien. Wenn einer selbst heute noch sagen darf, daß er diese Stadt als seine Hauptstadt ansieht und nicht der romantischen Sentimentalität zum Backhendel, zur Redoute und zum Prater geziehen werden will, dann muß er sich zu Johann Nestroy bekennen. Nestroy ist eine Weltanschauung!

II.

Die deutsche und die uns bekannte andere europäische Literaturgeschichte tut sich schwer, wenn sie zu dem Kapitel „Wiener Theater" kommt. Sie hat für das Genre, das in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vor allem im Leo- poldstädter Theater gepflegt wurde, den Fach(!)ausdruck „Wiener Dummheit' geprägt. Noch der sehr gewissenhafte Eduard Devrient verwendet ihn kommentarlos in seiner „Geschichte der deutschen Schauspielkunst“. Man denke: zu einer Zeit, da in Deutschland die Schaubühne endgültig zur moralischen Anstalt geworden zu sein scheint, da der Minister Goethe persönlich von seiner Loge aus den kichernden Studenten bei des langweiligen Schlegels Versdrama „Alorcas“ zuruft: „Man lache nicht, man bedenke, wo man sich befindet!", zu einer Zeit, da der Professor Hegel mit seinem Weltdienstreglement die Periode der Humorlosigkeit im Denken einleitet, da der Tugendbund gegründet und Kotzebues schlüpfrige Lustspielchen, diese späten Wechselbälger des großen achtzehntenJahrhunderts, auf der Wartburg öffentlich verbrannt werden, da sogar der gute, fromme Matthias Claudius zu Neujahr dichtet „Die Dichter solln nicht ewig Wein und ewig Amorn necken, die Barden sollen Männer sein, und Weise sein, nicht Gecken!'… zu dieser Zeit also schreibt, spielt und bejubelt man im sündig-sybaritischen Wien Märchenpossen und Phantastereien. Man läßt während der kantisch-moralisierenden Auseinandersetzung Karls mit Amalien in der Leopoldstadt den Springbrunnen so laut rauschen, daß keiner ein Wort vom Text versteht. Kurzum, man ist wieder einmal hintendran im „schlampigen" Österreich. Selbst Grillparzer fährt nicht ohne gewisse Minderwertigkeitskomplexe nach Weimar und kann nicht umhin, Wien mit Capua zu vergleichen, „schön wohl, gefährlich auch“.

III.

Und wie sieht es um die Jahrhundertmitte aus? Die bürgerliche Revolution ist für ganz Eropa auf der Tagesordnung Sie ist als solche kein erstrebenswertes Ziel, aber sie muß sein. Ohne den Bastillesturm kein Balzac, aber letztlich auch kein Berną n o s in Frankreich. Ohne die Barrikaden von Achtundvierzig kein Aufgehen der Saat Hofbauers in Österreich, ohne Veith und Günther kein Ficker, Haecker und Ebner! Und jetzt zeigt sich das ganz Unglaubliche: Im Deutschland Hegels spielt sich die Revolution, zersplittert in einzelne, recht führerlose Revolten, im Parlament zu Frankfurt, in der Rhetorik der Freiligrath und Herwegh zu Ende. An ihrem Ende steht nicht der Sieg der großdeutschliberalen Freiheit, sondern Kleindeutschland-Preußen. Ihr eigentliches Erbe übernimmt der „rote Preuße" Karl Marx Hundert Jahre später werden seine östlichen Nachfahren zu Berlin die fälligen Wechsel präsentieren. Und im „schlampigen“ Österreich der Zauberpossen und Feerien? Die Österreicher sind imstande, den Vormärz wirklich zum „Vorabend" zu machen. Die Gedichte des Grafen Niembsch (Lenau) und des Fürsten Auersperg (Grün) wachsen auf diesem Boden. Sie werden gelesen und ohne ausführlichen hegelianischen Parteikommentar verstanden. Während man zu Frankfurt debattiert und liberale Abgeordnete dem preußischen Romantiker demütig die Kaiserkrone anzubieten wagen, zwingt der liberale Österreicher Bach den Kanzler Metternich mit vorgehaltener Pistole zur Demission. Die „Wiener Dummheiten“ führen zur Laterne des Grafen Latour, zum Oktoberpatent, zum Reichstag von Kremsier, bei dem Konstruktiveres und Fortschrittlicheres beschlossen wurde als in sämtlichen Paulskirchen- sessionen zusammen. Das Bürgertum von Österreich übernimmt, die Grenzen der Zeit erkennend und in weiser Lebensklugheit die heilende und bergende Kraft der gewordenen Monarchie würdigend, stillschweigend die Macht im Staate Franz Josephs. Den Sturmtagen folgt die Ära Bach. Der deutschen Revolution folgt der Kartätschenprinz Wilhelm, der „olle Wrangel“ und die erste kommunistische Internationale (zu London allerdings..

IV.

Und das Geheimnis? Haben sich die Österreicher geändert? War es so, wie es immer in der Literaturgeschichte zu lesen steht? „Dem Träumer Raimund folgte der politische Satiriker Nestroy. Der Emst des Lebens begann. Die Revolution stand vor der Tür!“ Nein! So eben war es nicht. Aus der Welt der „Wiener Dummheit' wächst die Zauberposse Nestroys. Valentin ist der echte, nicht etwa „revolutionär überwundene Vorläufer des Plebejers Schno- ferl. Die Nestroyschen Bourgeoistypen sind die zu Ende gedachten Nachfahren des Verschwenders Flottwelll Natürlich ist es „das Unheimliche, das den Zuschauer beschleicht (Costenoble), das man bei Nestroy stärker spürt als bei Raimund, oder gar den Vorläufern Bäuerle und Meisl. Aber, ist das wirklich etwas Neues in Wien, das man erst vom allgemeinen „Aufbruch“ her importieren mußte? Hat es hier nicht den Stranitzky gegeben, und vor ihm schon den lieben Augustin und den kaiserlichen Hofprediger Abraham a Santa Clara? War diese Sprache nicht etwas älter als die der Freiligrath und Herwegh? So und nicht anders liegen die Gewichte verteilt. Die Revolution der deutschen Achtundvierziger ist in ihrem geistig-literarischen Niederschlag verblaßt und verstaubt, die Revolution Nestroys ist nach wie vor auf der Tagesordnung geblieben. Warum? Weil in ihr-eine existentielle Wurzel liegt, die den Revolutionären dieses Vernunft- und plangläubigen Jahrhunderts fehlte. Hinter ihr steht eine tiefe Einsicht in das Wesen des Menschen, in seine metaphysische, seine religiöse Gebundenheit, die eine Grundbefindlichkeit seines Daseins darstellt. Diese Grundbefindlichkeit des Menschen drückt sich nicht im „Innewerden“ in Pflicht und Tat aus, wie es einst Fichte an der Schwelle der deutschen Revolution mitreißend formulierte, sondern im Sein, das, uralter, vergessener Weisheit nach, vor allem Handeln, Weltumstürzen, Paradiesgründen steht. Das Menschenbild Nestroys, sein zorniger, tatkräftiger Glaube an den Menschen, ist umfassender als das schatten- und damit plastiklose Moralbild des deutschen Idealismus. Wenn man die blutwarmen Coupletstrophen Nestroys neben die rollenden Tiraden Freiligraths stellt, wirkt das wie das echte Griechenbild der Orffsdien Antigonä neben Winkelmanns „edler Einfalt und stiller Größe". Seine Lebensbejahung wird nie zur hektischen Großmannssucht, denn sie weiß um den Tod und die Vergänglichkeit. „An Aschen bin i“, singt Raimund kurz vor ihm. Keine melancholische Elegie, genau wie das „Alles ist hin“ des lieben Augustin keine Todesromantik ausdrückt. Das Leben vor der Folie des Todes, rätselhafter Ernst, aber auch jener Schuß von köstlicher Leichtigkeit nach dem sich Nietzsche sehnte, Die Revolution ohne den tierischen Ernst zum planenden Aufbau eines neuen, unwesentlich veränderten Staatsgefängnisses, die Revolution als Aufbegehren der Menschenwürde. Der Würde des gottebenbildlichen, in Sünde gefallenen und zur Freiheit der Kinder Gottes für ewig berufenen Menschen … Aber nicht die Revolution für das Tausendjährige Reich des vollkommenen Plans, für die Doktrin Robespierres, die logische Geschichtsentwicklung Hegels oder Marxens. Eben die österreichische Revolution, die heraus wächst aus der „Wiener Dummheit“, der Souveränität des Gotteskindes, das spielen und sich vergnügen, lieben, singen, Kerzeln anzünden, wallfahrten, raunzen, ins Kaffeehaus gehen, auf die Regierung schimpfen und nebenbei auch sehr ernst und konkret nachdenken will! Das ist die Ne- stroysche Revolution! Er hat das ausgedrückt, was die Menschen zu seiner Zeit fühlten, was vor ihm der liebe Augustin und nach ihm Karl Kraus gesagt haben. Wer weiß, was damit gemeint ist, gehört zur Austria Magna, mag er in Czernowitz, Reichenberg, Agram oder Lemberg geboren sein. Wer es nicht versteht, kann es auch ohne Staatsbürgerschaft lernen, wenn er in sich selbst hineinhört.

V.

Und so allein wollen wir diese parteiische, bewußt parteiische confessio zum ewigen Johann Nestroy verstanden wissen. Nicht als lokalpatriotische Betonung einer „blut“- und heimgebundenen österreichischen Sonderart, sondern als einen österreichischen Appell an Deutschland, dieses Geschenk der Nestroyschen Weisheit heute vielleicht leichter anzunehmen, da die Früchte der Kant-Hegelianischen Tugend abgeerntet, die Arbeits- r.eurose der idealistischen Täter fragwürdig geworden ist! Als Direktor Carl, der erste Geschäftsmann und Planer des Wiener Theaters, sein neues Haus an Stelle des alten Leopoldstädter Theaters im hektischen Wettlauf mit dem drohenden eigenen Bankerott gründen und bauen wollte (zunächst eine Fehlspekulation, wie sich bald erwies), erschien er am 7. Mai 1847 jn Maurergewandung vor dem Publikum und schlug mit dem Hammer gegen den Proszeniumspfeiler, gegen die Schnörkelsäule der Stätte der „Wiener Dummheit“. Die Säule blieb stehen. Das „Fanget an“ Direktor Carls ist vergessen, sein Theater von den Bomben vernichtet. Die „Wiener Dummheit' aber hat sich erhalten, so wie sie Nestroy zur höchsten Blüte geführt hat. Die Dummheit gegen die planende „Gescheitheit“ … Ist es vermessen, hier zūlėtzt an eine andere „Torheit“ zu denken, die auserwählt ist, das Starke und Weise zu beschämen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung