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Österreichische Studenten 1948

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Granaten und Bomben haben dem Gebäude der Wiener Universität die Spuren der vergangenen Weltkatastrophe aufgeprägt und den Prachtbau am Dr.-Karl- Lueger-Ring verändert. Es ist aber nicht nur das äußere Bild dieser ältesten österreichischen Hochschule, des einstmaligen Mittelpunktes eines vielgestaltigen studentischen Lebens, durch den Krieg gezeichnet und durch die friedlose Nachkriegszeit geformt worden. Die Geschosse haben tiefer eingeschlagen und größere Lücken gerissen, als es die Risse in den Mauern erkennen lassen. Das harte Geschehen hat das Antlitz einer studentischen Generation und ihre Lebensform gebildet.

Es ist kein einheitliches, kein ebenmäßiges Bild. Gibt es heute überhaupt eine studentische Generation? Können wir, wenn die Rede auf die Tausende junger Menschen kommt, die die österreichischen Hochschulen besuchen, von einer einheitlichen, soziologischen und generationsmäßigen Schicht sprechen? Steht der dreißigjährige, bereits im Berufsleben tätige Familienvater, dem wir nicht selten in den Hörsälen unserer Hochschulen begegnen, auf derselben geistigen Ebene wie die kaum achtzehnjährige Maturantin? Gibt es überhaupt irgendeine gemeinsame Basis, auf der sich nach sechs Jahren Krieg und drei Jahren Gefangenschaft heimgekehrte Studenten mit jungen Neuinskribenten, für die der Krieg vielleicht nicht mehr als Soldatenspiel und überdimensionierte Ferien bedeutet hat, begegnen können? Dieses widerspruchsvolle Bild des österreichischen Studenten von 1948 läßt erkennen, daß der Begriff studentische Generation in der Gegenwart unscharf ist und daß selbst der Name „akademische Jugend” nicht immer zutrifft, sondern manchmal wie eine Ironie sich anhört. Die Hörer unserer Hochschulen charakterisiert nicht nur das vollständige Fehlen bestimmter enger Altersgrenzen. Auch die Auflösung der herkömmlichen Klassen, an denen von mancher Seite gerne dogmatisch festgehalten wird, läßt sich erkennen. Denn niemand wird in jenen Hoch sch lern, die ihre Studien mit Hilfe entwerteter Stipendien vön Semester zu Semester hart erkämpfen, noch etwas von den vielkritisierten Biirgersöhnchen von einst erkennen. Auch jene Hauslehrer und Theaterstatisten, jene Wachebeamten und Jazzmusikanten, die von ihrem Verdienst nicht nur studieren, sondern oftmals eine Familie erhalten müssen, entsprechen nicht mehr den Vorstellungen von der Bourgeoisie. Oder gehört diese expropriierte Jugend zum Proletariat? Fragen wir sie selbst und sie wird in 90 zu 100 Fällen mit einem entschiedenen „Nein” antworten. Ihre geistigen Leistungen und ihr, wenn auch bescheidener, so doch bewußter Lebensstil rechtfertigt diese Antwort. Wohin sollen wir diese jungen Menschen in den schäbigen Wintermänteln, unter deren zerschlissenem Tuch tapfere Herzen schlagen, einordnen? Wenn Hans Wirtz am Ende seines Buches „Gott geht durch die Zeit” davon spricht, daß durch die wirtschaftliche Nivellierung bisheriger Klassenunterschiede ein neuer Stand sich bildet, für den es noch keinen Namen gibt, der aber „materiell” oft unter dem Besitztum des Proletariats, aber geistig vielfach weit darüber steht, so hat er recht. Dieser neue Stand, dieser . fünfte Stand”, ist bereits da. Fr füllt und überfüllt die österreichisdien Hochschulen.

Was denken nun die Menschen dieses neuen Standes? Welche Auffassungen haben re von ihrem Studium und mit welchen Gedanken und Vorstellungen treten sie an das Leben heran, in dem sie einst als akademische Bürger eine nicht unbedeutende und auch nicht unverantwortliche Stellung einnehmen sollen?

Man muß das bittere Wort rücksichtslos mit aller Offenheit aussprechen. Der überwiegende Großteil der heutigen österreichischen Studenten sind Brotstudenten. Das heißt, ihr Studium bedeutet für sie keine ethische Aufgabe, sondern ist ihnen Mittel zum Zweck, ein Hilfsmittel zur Erlangung einer bestimmten Berufsstellung. Ganz genau gesagt, die Universitäten sind zu Vorbereitungskursen für bestimmte Berufe des Staatsdienstes geworden. Den um viele Jahre ihrer geistigen Ausbildung verkürzten Studenten ist der Wettlauf nach dem neuen Adelsprädikat der österreichischen Republik, dem Doktordiplom, nicht zu verargen. Es ist nicht ihre Schuld, wenn die Hochschulen, insbesondere die Universitäten, immer mehr den Charakter von höheren Berufschulen annehmen und dadurch eine Aufgabe zugeteilt erhalten, die ihrem Wesen nicht entspricht und die sie auch nur schlecht erfüllen können, während der eigentliche Kreis ihrer Pflichten und einstigen Bestimmung sich immer mehr in kleinere Kreise, oft auch in halboffizielle und private Gruppen verlagert. Es ist ein Mahnzeidien für alle zuständigen Stellen, daß auf der Wiener Universität, deren Seminare oft mehr als 100 Teilnehmer zählen, ein Professor sich entschließen mußte, ein Privatseminar abzuhalten, um auf irgendeine Weise und an irgendeinem Ort eine der Universität würdige und ihrem Wesen auch entsprechende wissenschaftliche Arbeit mit seinen Studenten leisten zu können. Ein Mahnzeichen ist dies und zugleich eine Aufforderung an die zuständigen Stellen, nicht davor zurückzusch recken, das Problem einer großzügigen österreichischen Hochschulreform ernstlich in Erwägung zu ziehen. 60 bis 70 Prozent der österreichischen Hochschüler sind keine Wissenschaftler. Sie wollen keine sein und bringen auch die nötige Eignung dazu nicht mit. Was sie wollen, und nach dem Stand der Dinge mit gutem Grund wollen, ist eine praktische Ausbildung für ihren späteren Beruf in der Verwaltung, kn Gerichtsdienst und im Schulwesen. Nichts anderes. Gebt diesen zukünftigen Staatsbeamten eine Verwal- tungsakademie, in der sie auf die Praxis ihres künftigen Berufes vorbereitet und gc;- schult werden und die Hörsäle der Universität werden sich von selbst leeren. Sie werden wieder genügend Platz haben für jene, die in ihnen wissenschaftlich arbeiten und für ernste Forschung sich schulen wollen. Österreich braucht Wissenschaftler und Praktiker. Es braucht Männer, die in der Studierstube denken und in Laboratorien forschen. Es braucht aber in gleicher’ Weise auch aus einer Verwaltungsakademie tüchtige Fachleute im öffentlichen Leben. Was es nicht braucht, ist der Typ des Pseudowissenschaftlers, der heute durch das Fehlen jeder anderen Fortbildungsmöglichkeit in die Universität gedrängt und durch die Semester durchgeschleust wird. Es sind jene Menschen, die auf dem Weg zu dem Ziel der Hochschule auf halber Strecke stehenbleiben müssen, gleichzeitig aber vor den Anforderungen, die das Leben an sie stellt, kapitulieren. Man zeige ihnen den richtigen Weg, man weise den Studenten das ihrem Denken und ihrer Art angemessene Betätigungsfeld zu und mache sich selbst nicht mitschuldig an einer Vergrößerung der herrschenden Ziel- und Richtungslosigkeit einer schon genügend desorientierten Jugend.

Und noch eine letzte Frage. Welchen Anteil nehmen die österreichischen Studenten von 1948 am öffentlichen Leben? Wie ist ihre Stellung zur Politik? Vor 100 Jahren haben Wiener Studenten eine Revolution und damit sogar Weltgeschichte gemacht.

Ihre Urenkel sind zu großen Ausflügen in das Reich der Geschichte weniger bereit. Man geht nicht auf Barrikaden, wenn man aus Schützenlöchern und Betonbunkern kommt. Man ist skeptisch geworden gegen die vielen Löckrufe, aus welcher Himmelsrichtung sie auch kommen mögen. Man ist taub geworden für die Melodien der Flötenbläser, in welchen Kostümen sie auch auftreten mögen. Die Wiener Studenten von heute wollen Urlaub haben von der großen Welt, um in Ruhe ihre eigenen Häuser zu bauen und ihre wurzellos gewordenen Existenzen wieder in festeres Erdreich zu senken. Es ist auch zu politischer Aktivität niht gerade aufmunternd, wenn sie sehen, wie vor den einstigen Klassen kollegen aus der Mittelschule, die mit 13 Jahren Hitlerjungen und mit 18, während ihrer Militärdienstzeit, zur „Partei” überstellt wurden, die Tore der Hochschule zufielen und beharrlih geshlossen bleiben. So erziehen wir niemand zu politischen Bekenntnissen. Mit solhen Maßregeln erwecken wir keine Zuneigung zum öffentlihen Leben.

Doh ist der Sinn für die Forderungen der Zeit niht tot und der Blick niht durh die Schleier billiger Selbstillusionen getrübt. Das Verantwortungsbewußtsein für die Zukunft unserer Heimat, deren Schicksal auh das jedes ihrer Bürger sein wird, ist auh unter den österreichischen Studenten wah. Es spricht aus der zähen Bereitshaft zu Arbeit, Fleiß und innerer Vervollkommnung, es lebt in dem Willen, aufgeschlossen zu bleiben für die Postulate dieser shicksal- shweren Gegenwart, in dem unerschütterlichen Willen zur Freiheit, von der wir wissen, daß sie nur in Gesetz und Ordnung gedeihen kann und daß sie es ist, die, Erfordernis der menschlichen Würde, das Leben lebenswert mäht. Es ist m h immer dasselbe Ziel, das auh die Ureroßväter vor Augen hatten, als sie das Lied sangen von der „Freiheit, die wir meinen”.

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