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Österreichs „fünfte Kolonne“

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Oesterreich steht am Beginn der Sommersaison. In Innsbruck, Salzburg, Klagenfurt und Wien mehren sich die Wagen mit den ausländischen Kennzeichen, ein Strom von Fremden beginnt in unser Land zu fließen. Eine erfreuliche Erscheinung: Geld kommt in Fluß, Menschen und Mittel geraten in Bewegung. Den Vorbereitungen nach zu schließen ist man in vielen Orten bereit, die Gäste unseres Landes sorgfältig zu betreuen. Klagen aus Vorjahren wurden gesammelt, Beschwerden werden überprüft. Inwieweit’ unsere Hotellerie und das Gastgewerbe, das stellenweise mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, in der Preiskalkulation den Wünschen von Aus- und Inländern Rechnung tragen wird — bekanntlich fanden in der letzten Sommersaison selbst und gerade Angehörige von Edelvalutaländern österreichische Preise nicht selten überhöht —, das wird die Erfahrung lehren. Wie immer dem sei: niemand im ganzen Land kann diese Erscheinung übersehen — zumindest ihre wirtschaftliche und augenscheinliche Bedeutung. Ein anderes betrifft bereits ihren politischen Rang. Wer die Hallen unserer Hotels zwischen Lech und Inn, zwischen Wörther See und Semmering betritt, wird selten genug hübsche und kultivierte Prospekte, Hefte und Publikationen finden, die in einer unbefangenen und unaufdringlichen Art sich bemühen, den Gast aus der Fremde bekannt zu machen mit der europäischen Bedeutung unseres Landes, mit seiner politischen Leistung in Vergangenheit und Gegenwart, mit seiner Potenz als Friedenskraft mitten im Schnittpunkt weltpolitischer Interessen und Gegensätze. Es hat füt den Oesterreicher, der öfters ins Ausland kommt, etwas Erschütterndes an sich: da trifft man nicht wenige Personen und Persönlichkeiten, oft in einflußreichen wirtschaftlichen und politischen Stellungen ihres Landes, ihres Kontinents, die oft und gern in Oesterreich zu Gast waren und sich auch gerne dieser Aufenthalte erinnern. Wenn der angenehm betroffene Oesterreicher dann jedoch im Gespräch näher eindringt, muß er zu seinem Erstaunen betreten feststellen: dieselben Menschen, die für Wiens Oper und Musik, für die Salzburger Festspiele und die Tiroler Berge schwärmen, verraten „Kenntnisse" über unser Land, die stereotyp geprägt sind durch jene alten Klischees, die Oesterreichs Gegner und Feinde seit den Tagen Metternichs mit nicht geringem Erfolg in Europa und Uebersee verbreitet haben. Da haust also, hinter den wohlwollenden Gesichtern, tief eingenistet, das Gespenst vom „Völkerkerker Oesterreich", der seine slawischen und nichtdeutschen Nationen unendlich grausam unterdrückt habe selbst sehr konservative Bürger westlicher Länder glauben an eine „Befreiung" dieser Völker sogar durch die heutigen Volksdemokratien ...

Was da sodann geäußert wird über Regierung, politische und wirtschaftliche Verfassung unseres Landes, sei mit dem Schleier des Taktes verhüllt — muß aber von uns zur Kenntnis genommen werden. Immer wieder stellt sich heraus: diese Menschen, die keineswegs boshaft sind, nur ,, ununterrichtet", wie eben die Mehrzahl unserer Zeitgenossen, tragen in sich die in ihrer Schulzeit und in den Jahren der beiden Weltkriege geprägten Klischees, weil Oesterreich selbst es nicht verstanden hat, diese Schemen positiv zu „liquidieren", sie flüssig zu machen und durch neue Sachkenntnisse zu ersetzen. So kommt es, daß der Fremdenstrom, der sich jahraus, jahrein j etztwiedernach Oesterreich ergießt, politis c hu ndwirtschaft- 1 i c h, weltpolitisch und europäisch in keiner Weise jene Bilanz erstellt, die für unser Land und Volk, das sich heute auf den Weltmärkten der Wirtschaft, in den Staatskanzleien fremder Regierungen und nicht zuletzt in den Zeitungen und meinungsbildenden Presseorganen ferner und naher Länder neu behaupten muß. s o überaus wichtig wäre.

Als vor kurzer Zeit cjas freundliche Buch eines Engländers über Oesterreich erschien, erregte es bei allen „Eingeweihten" großes Aufsehen: so sehr hatte man sich hierzulande bereits abgefunden, im Ausland überschwiegen, oberflächlich gelobt oder sehr oft abfällig kritisiert zu werden.

Mit den ausländischen Gästen kommt eine eigenartige Gruppe „fremder Gäste" ins Land, die unser hohes Augenmerk verdient: es sind Auslandsösterreicher, Männer und Frauen, die in Europa, Nord- und Südamerika, im Nahen und Fernen Osten Lebensstellungen gefunden haben, und es sind Altösterreicher, die oft seit langem schon Bürger anderer Staaten geworden sind, die aber der alten Heimat ein treues Anhängen bewahrt haben. Eine Anhänglichkeit, die oft wenig Dank findet. In den Hotels und Gaststätten begegnet ihnen die kalte Höflichkeit rein geschäftlicher Interessen, keine Stelle des Staates oder der Länder kümmert sich um ihr Wohl und Wehe. So weilen sie im Lande, als fremde Gäste auf einer Erde, die die Gräber ihrer Väter birgt, heute aber sie nur aufnimmt wie eine Zwischenstation in der Wüste, ein Flugzeug in Bagdad oder Pernam- buco. Unbetreut betreten, unbetreut verlassen, sie das „gastliche Land", das ihnen gewiß nicht böse ist, das nur seinerseits ungerüstet ist, sie in entsprechender Weise zu bewillkommen. Wobei ein Willkommengruß durchaus nicht vorzustellen wäre im Stile von Heimkehrerprozessionen der nahen Vergangenheit: wo also städtische Musikkapellen den Sonderzug mit seinen 600 Mann am Bahnhof erwarten und sodann in die „vorbereiteten Quartiere" geleiteten. Man spottet heute leicht über diese militärisch-politische Nutznießung des Besuches „lieber Gäste" — wenn man jedoch den positiven Kern dieser Empfänge herausschält, bleibt als bedenkenswert genug: hier gibt es Geleit, Betreuung, Umsicht und Klugheit bemühen sich, die Gäste an Land und Leute zu binden, ihr Interesse zu wecken und zur Wiederkehr zu laden.

Unbemerkt von der Oeffentlichkeit, unbetreut vom Staate und den politischen Parteien und Körperschaften, verläßt gleichzeitig, Jahr für Jahr, ein anderer Strom unser Land. Kleine und große Leute, Dienstmädchen und Facharbeiter, Musiker und Ingenieure, Aerzte und Wissenschafter . . . Ein Strom, der sich in alle Kontinente ergießt und der im Gesamt einen Substanzverlust, eine schreckliche negative „Min-derung" unserer Volkssubstanz bedeutet, von dem zwar nicht gar so selten beflissentlich mit Augenaufschlag gesprochen wird, der aber zumeist verschwiegen wird. Wenn da etwa ein hochbegabter junger Akademiker, der aus persönlichen Gegenwirkungen an einer österreichischen Hochschule nicht Fuß fassen kann und gezwungen wird, nach Uebersee zu gehen, nur um leben zu können; wenn da ein Dutzend erstrangiger wissenschaftlicher Kapazitäten Oesterreich verläßt, weil sie der Neid ihrer engsten Fachgenossen nicht zu Arbeitsplätzen kommen ließ, dann liest man über diese „Besonderen Vorkommnisse" wohi noch ein Wort in der Tagespresse: allerdings meist so verschleiert und entstellt, daß der Mann auf der Straße, der einfache Staatsbürger und Steuerzahler sich kein rechtes Bild machen kann über die Urheber dieser Substanzverschleuderung Oesterreichs. Weniger schon hört man über ganze Klassen absolvierter Techniker und Facharbeiter: Oesterreich nähert sich hier wieder derSituation zwischen den beiden Weltkriegen, in denen ganze Schulklassen ins Ausland abverkauft wurden. Sowjetrußland hat auf diese Weise auch in Oesterreich ein hochwertiges „Menschenmaterial" erworben ... Heute arbeiten zwischen Tokio und Kapstadt, Delhi und Rio de Janeiro, Toronto und Hamburg viele Hunderttausende Altösterreicher und Exösterreicher.

Tausende sind in führende Stellungen eingerückt, als Generaldirektoren, leitende Ingenieure, Architekten, Opernchefs, als führende Publizisten, Filmleute, als Wissenschaftler, die gerade in Amerika in den wichtigsten militärischen und zivilen Forschungsstätten der USA, als Mathematiker, Grundlagenforscher, als Soziologen, Techniker und Aerzte, Beiträge geleistet haben, die das Weltpotential ihrer Gastländer und der Kontinente, in denen sie eine neue Heimat gefunden haben, nicht selten entscheidend entwickelt, bereichert und gemehrt haben. Wer dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen wagt, also offenen Auges, jenseits der Kabalen von Cliquen, jenseits der Müdigkeit unserer Aemter und jenseits des listigen Beiseitesehens nicht weniger öffentlicher Herumsteher, in die eine Welt hineinzusehen wagt, kann bereits auf den ersten Blick feststellen: hier hat unser Volk und Staat Kräfte verloren, die ihm jene Weltmachtstellung als Kulturland, als Produktionsstätte hochqualifiziertester Köpfe und Hände, die so oft unberechtigt in öffentlichen Reden bekundet wird, tatsächlich verbürgen könnten: durch ihre unübersehbare Arbeit, Leistung, Führerstellung.

Diese Tatsache ist so bedeutend, daß Klage und Anklage ihr gegenüber ebenso zwecklos sind wie die Versuche, sie zu verschweigen oder zu bagatellisieren. Wohl aber kann und muß gehandelt werden. Oesterreich kann diese Menschen, die gehaltmäßig Milliardenwerte repräsentieren, nicht zurückrufen, zumindest nicht in ihrer großen Mehrzahl. Ein anderes wäre schon eine zeitweilige Verpflichtung zu Gastvorlesungen, Arbeitstagungen, zu mehrmonatigen Besuchen, um ihre Erfahrungen auch dem Mutterlande zu mitteln. Aufs Ganze gesehen, kann und muß aber eines geschehen: eine sorgfältige Erfassung und Betreuung dieser in der Welt einzigartig dastehenden fünften Kolonne Oesterreichs, um sie persönlich wieder in innere und äußere Verbindung mit ihrem Heimatland zu bringen. Das ist das Erste und zunächst Wichtigste. Täuschen wir uns nicht: nicht wenige und gerade hervorragende Persönlichkeiten des Ausland- und des Altösterreichertums zeigen eine geringe Neigung, mit Oesterreich wieder in Beziehung zu treten. Alte Wunden sind noch nicht vernarbt. Die Erinnerung an feindselige Kollegen, an den Unverstand von Aemtern und Behörden, an das Nichtinteresse der gesamten Oeffent- lichkeit für ihre Leistungen man denke nur an Männer wie Martin Buber, dessen siebzigstem Geburtstag keine Wiener Tageszeitung auch nur mit einem Wort gedachte, so daß heute der überwiegende Teil der österreichischen Bevölkerung nicht einmal den Namen dieses großen Denkers zwischen Ost und West kennt, an die Umstände nicht zuletzt, unter denen sich in Armut oder politischer Verfolgung ihre Ausreise vollzog — das alles trägt wesentlich dazu bei, bei nicht wenigen einen Widerstand gegen eine Aktivierung für ihr altes Vaterland zu erhalten, der nicht unterschätzt werden darf.

Um was für eine „Aktivierung" kann es sich hier aber nun überhaupt handeln? Wie steht es um die fünfte Kolonne Oesterreichs in der einen Welt? Oesterreich ist eines der wenigen Länder dieser Erde, dem keine machtmäßigen politischen Aspirationen nachgesagt werden können. Die „fünften Kolonnen" großer und kleinerer Mächte befassen sich bekanntlich mit Spionage, mit den Arbeiten des kalten und heißen Krieges, mit Industrieerkundung, mit der Durchführung von Propagandafeldzügen usw., um auf diese Weise Terrain zu gewinnen für die machtpolitischen und militärischen Positionen ihrer Auftraggeber. Niemand auf der Welt, der gesunden Sinnes ist, kann behaupten, daß Oesterreich Aspirationen dieser Art besitzt. Oesterreich will weder Sizilien besetzen noch das Fürstentum Liechtenstein erobern, es will kein militärisches Glacis in Irland wo Schrödinger, der Nobelpreisträger, wirkt oder Kolonien in Abessinien wo Wiener Kapellmeister und Ingenieure arbeiten. Es bedarf aber dringend, soll es zum Nutzen Europas und des Weltfriedens die gewaltige Spannung im Geviert zwischen Nord und Süd, Ost und West austragen und durchhalten können, einer „fünften Kolonne", die durch ihre Leistung und Arbeit in und für fremde Völker, Kontinente und Staaten demonstriert für die Verpflichtung eben dieser Länder, Oesterreich mit zu erhalten, als ein Reservoir, als einen Mutterboden von Kunst und Wissenschaft, als einen Quellgrund, der nur dann immer wieder, schier unerschöpflich, seine besten Söhne in den Dienst anderer Völker in alle Welt hinein entlassen und entsenden kann, wenn er selbst erhalten bleibt. Und geschützt wird —- nicht so sehr durch Armeen, wie vielmehr durch wirtschaftliche Aufträge, durch politische und kulturelle freundnachbarliche Beziehungen. Die dürftigsten, erst in ersten Ansätzen entwickelten kulturellen Institute Oesterreichs im Ausland — auf sie, ihre Aufgaben und Möglichkeiten ist in einem weiteren Aufsatz einzugehen — können allein diese Funktion einer organischen Verbindung Oesterreichs mit der ganzen Welt nicht erfüllen. Wohl aber können es einige Hunderttausend schlichter „kleiner Leute" und einige Tausend hochqualifizierte Persönlichkeiten des Auslandösterreichertums, wenn diese gewonnen und geweckt werden für diese schöne und große Aufgabe, eine Resistence des Friedens zu bilden, eine Brücke zwischen neuer und alter Heimat.

Hier ist demnach einzusetzen. Schon in dieser Sommersaison. Auslandösterreicher, die Oesterreich als Urlaubsort besuchen, sind als erste Boten zu gewinnen. Sie können eine Botschaft hinaustragen, für die allzu vielen, denen bereits der Glaube fehlt: Oesterreich wirbt bei seinen „verlorenen Söhnen", um Verständnis, um Interesse, um Anteilnahme. Der Opfermut und so oft unbedankte Idealismus einzelner Vereinigungen von Auslandösterreichern in nahen und fernen Gastländern ist sodann endlich zu bergen, indem diese in Verbindung zu bringen sind mit bereits bestehenden und mit neu zu schaffenden Stellen im Unterrichtsministerium und Außenamt, in den Bundesländern, mit privaten Gruppen, mit Wirtschaftsverbänden und, nicht zuletzt, mit den großen kulturellen Institutionen unseres Staates. Unsere Theater und Museen, unsere Presse und unsere Verlage, unsere Sommerund Winterfrischen — alle Strahlräume unseres Landes sind zu öffnen — für unsere Gäste. Als Gast zurückzubitten haben wir zu allererst jene, die aus unserem Lande in die Fremde gingen, gehen müßten.

Erst wenn dieser Prozeß in Fluß kommt, wird es Oesterreich gelingen, auch1 seine anderen Gäste richtig zu empfangen. Es wird auch befähigt werden, ein einzigartiges Gastland zu werden auf dieser Erde: ein Land im Reichtum seiner guten Gaben, imstande, froh zu geben und froh zu empfangen. Und so Vorbild zu werden für den Produktionsprozeß der Menschheit, in dem alle Völker gebeten sind, einander mitzuteilen die Güter ihrer Arbeit, ihres Ingeniums. Unerschlossener Schätze, im Innen und im Außen, ist unser Land voll. Es ist Zeit, sie zu erschließen, h.

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