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Österreichs vergessener Malraux

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VOM WESEN* DER NATION. Fragen und Antworten mm Nationalitätenproblem. Von Guido Zernatto. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfin derMaur. Verlag Adolf Holzhausens Nachfolger, Wien. IM Selten, S 127—.

Mit 16 Jahren greift er zum Gewehr, um seine Kärntner Heimat frei und ungeteilt zu erhalten. Zwischen seinem 19. und 22. Lebensjahr zieht er als Holzeinkäufer von Waldhütte zu Waldhütte. Hiernach beginnt mit 100 Schilling „Grundkapital“ das waghalsige Experiment der Gründung einer kulturellen Monatszeitschrift in Villach. Nach einem Jahr scheitert das Unternehmen, und der kühne Zeitungsherausgeber wandert unter dem mehr oder weniger sanften Druck des Vaters nach Wien, um hier, nun bereits 23 Jahre alt, eine Maturaschule aufzusuchen und nach ihrer erfolgreichen Absolvierung Jus an der Universität zu inskribieren. Daneben entstehen Gedichte. Und es ist charakteristisch für das Leben des Mannes, von dem wir sprechen, daß beinahe zur gleichen Zeit wie sein erster Lyrikband erscheint sein Verfasser Generalsekretär einer der großen paramilitärischen Verbände, die das Schicksal der Ersten Republik entschieden, des „österreichischen Heimatschutzes“, wird. Der Dichter und Politiker Guido Zernatto ist damals nicht älter als 26 Jahre.

Das weitere Jahrzehnt — es ist gleichzeitig das letzte seines Lebens — wird er der Poesie genau so wie der Politik eng verbunden bleiben. Zur gleichen Zeit, in der Gedichte entstehen und Romane konzipiert werden, kämpft Zernatto in der vordersten politischen Front zunächst als Staatssekretär und Generalsekretär der Vaterländischen Front, zuletzt als Minister und Stellvertreter Schuschniggs in der VF für ein freies Österreich. 1938 wählt Zernatto das Exil und damit die Fortsetzung des Kampfes gegen Hitler. Niemand, der damals, als die deutschen Armeen von Sieg zu Sieg eilten, am Radio saß, wird die aus Frankreich kommende Stimme vergessen, die den standhaft gebliebenen Landsleuten in der Heimat zurief: „Österreicher, haltet aus. Österreich wird wieder frei!“ Guido Zernatto hat diese Freiheit nicht mehr erlebt. Neuerliche Flucht in das ferne Amerika ist zunächst sein Schicksal. Als alle Bemühungen um die Bildung einer österreichischen Exilregierung an den noch frischen Wunden des Bürgerkrieges 1934 scheiterten, — damals wurde übrigens Südtirol verspielt — zieht er sich immer mehr in Bibliotheken zurück, um mit der Feder seinen Beitrag für die Zukunft einer Neuordnung in Europa nach Hitler zu leisten. Ahnungen seines frühen Todes in der Fremde stellen sich ein: „Dieser Wind der fremden Kontinente bläst mir noch die Seele aus dem Leib...“ Am 8. Februar 1943 macht ein Herzanfall in New York dem Leben Guido Zernattos ein Ende. Er konnte nicht einmal seinen 40. Geburtstag erreichen.

Guido Zernatto war Dichter aus Berufung und Politiker aus Überzeugung in einer Person. Wäre ihm ein längeres Leben beschieden gewesen, leicht. hätte er so etwas wie ein österreichischer Malraux werden können. Aber auch so war es wirklich an der Zeit, daß man sich in dem Land, an dem er mit allen Fasern seines kranken Herzens hing —' die letzten Sätze seines Buches „Die Wahrheit über Österreich“ geben erschütternd Zeugnis davon — dieses Mannes zu erinnern. Darum ist Wolf In der Maur nicht nur zu danken, daß er eines der bisher hierzulande so gut wie unbekannten politischen Manuskripte Zernattos vorlegt, sondern vielleicht noch mehr dafür, daß er in einem feingeschlif-fenen Essay Zernatto und seine Zeit den Nachgeborenen ins Gedächtnis ruft.

Ob das vorgelegte Manuskript freilich, wie es der Herausgeber hofft, die Nationsdiskussion in Österreich befruchten und klären kann, das ist eine andere Frage. Das spricht nicht gegen Guido Zernatto, aber es gehört zum Charakteristikum seiner Generation, daß sie, soweit sie nicht vom Gift des Nationalismus selbst fanatisiert war, hier mehr Fragezeichen setzte als klare wegweisende Aussagen zu geben imstande war. Eines aber geht aus Zernattos Untersuchung klar und eindeutig hervor. „Nation“ ist nicht ein einmal fixierter und über Jahrhunderte konservierbarer Begriff. Die Menschen des 16. Jahrhunderts erfüllten dieses Wort mit einem anderen Inhalt als die Bürger des 19. Jahrhunderts. Es besteht daher für uns, die wir im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts leben, auch im deutschen Sprachraum keinerlei Zwang, uns dem romantischen Herderschen Nationsbegriff für alle Ewigkeit verpflichtet zu sehen.

Ob Guido Zernatto heute von der österreichischen Nation sprechen würde? Die Frage erscheint uns bei einem so kompromißlosen Vorkämpfer für die Unabhängigkeit und

Integrität Österreichs müßig, obwohl Wolf In der Maur sie anklingen läßt. Ohne einen Toten für diese oder jene Barrikade in Beschlag nehmen zu wollen, darf man doch wohl eindeutig feststellen, daß Zernatto, den Wolf In der Maur schon zu einer Zeit sogar als so etwas wie einen „österreichischen Nationalisten“ (S. 46) anspricht, dem neuen deutschen Nationalismus und seinen Sendboten in Wort und Tat genau so Parole bieten würde wie einst den Sturmkolonnen Hitlers.

Unter österreichischen Patrioten aber sollte das Wort „Nation“ keine Diskussion oder Entzweiung bringen. Ist wirklich ein so großer Unterschied zwischen jener Auffassung, wie sie zum Beispiel schon Karl Renner am Abend seines Lebens sich zu eigen machte, als er schrieb: „Die Österreicher werden geradezu zu einer Nation internationalen Gepräges...“ (Wiener

Zeitung, 23. Oktober 1946), und der Interpretation Wolf In der Maurs, der sich mit dem Wort und dem Begriff österreichische Nation deswegen nicht ganz anfreunden kann, weil er der Meinung ist, „Was dem Österreicher Spezifität verleiht und worin er seiner Geschichte entspricht, ist seine übernationale Denkungsart und Lebensweise“ (S. 61 ff.). Wir glauben nicht. Die Frage ist nur, ob wir auch in einer größeren europäischen Einheit einmal Österreich als eigenen Baustein wollen oder nicht. Zernatto wollte es — und wir wollen es auch.

P. S.: Es wäre zu schön, wenn die vorliegende Schrift nur der Vorreiter für eine Gesamtausgabe von Guido Zernattos literarischen, aber auch politischen Schriften wäre. Zernattos Gebeine aber — müssen sie bis zum Jüngsten Tag auf dem St-Raymonds-Cemetary-Bronx im fremden Amerika ruhen, oder wäre es nicht eine Ehrenpflicht, diesem getreuen Sohn die späte Heimkehr in österreichische Erde zu schenken?

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