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Ohne Träume kein Leben

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Traumlos zu schlafen, das gibt es nicht. Wer glaubt, nie geträumt zu haben, irrt. Träumen ist sogar - so unglaublich das klingt - lebensnotwendig.

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Traumlos zu schlafen, das gibt es nicht. Wer glaubt, nie geträumt zu haben, irrt. Träumen ist sogar - so unglaublich das klingt - lebensnotwendig.

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Wir müssen träumen. Und wir träumen jede Nacht mehrmals. Auch wenn wir beim Aufwachen nichts mehr davon wissen. Seit 40 Jahren weiß die Wissenschaft das genau, auch wenn sich der Normalschläfer höchstens einmal im Jahr an einen Traum erinnert. Es gibt sogar - laut Meinungsumfrage - fünf Prozent Männer, die felsenfest davon überzeugt sind, noch nie ge-träumt zu haben. Noch viel mehr Traumzweifler werden es, will man die Nachtepisoden genauer klären: dann meinen nämlich noch viel mehr Menschen, daß sie nie farbig geträumt, und niemals im Traum Musik gehört haben. Aber alle diese Angaben sind Irrglaube.

Träume sind eine bewiesene Tatsache. Der amerikanische Physiologe

Nathaniel Kleitman, Professor an der Universität von Chicago, studierte die Schlafgewohnheiten von Säuglingen. Dabei entdeckte er, daß die schlafenden Kleinen manchmal ohne ersichtlichen Grund die Augäpfel rollten - und zwar so stark, daß das durch die geschlossenen Lider sichtbar war.

Diese Phasen des „Rapid Eye Mo- vements-REM“ (deutsch: schnelle Augenbewegung), so stellte der Forscher dann bei Erwachsenentests fest, zeigen die Traumtätigkeit an. Sie treten mehrmals pro Nacht auf. Mit winzigen Elektroden, die an den Augenlidern angebracht wurden, und einem Elektroenzephalogramm, das die Gehirnwellen aufzeichnete, konnte der Forscher genau die REM-Phase seiner Testschläfer feststellen und sie aufwecken: Jedesmal bekam er dann einen Traum zu hören.

Mit der Zeit fand Kleitman das Muster heraus, nach dem wir alle schlafen. Und das sieht so aus:

Nach einem Schwellenstadium, das den Übergang zwischen Wachen und Schlafen darstellt, versinken wir in Tiefschlaf.

Eine Stunde danach folgt ein „Aufwachstadium“, eine Traumphase.

Nach weiteren zehn Minuten versinken wir wieder in Tiefschlaf.

Diese Wellenbewegung machen wir vier- bis fünfmal hintereinander durch. Der Schlaf wird dabei immer seichter und die Traumdauer länger.

In acht Stunden eines normalen, gesunden Schlafs, fand Kleitman heraus, träumt der Mensch ein Viertel der Zeit, rund 120 Minuten.

Während der Traumphasen liegt der Schläfer wie gelähmt da, die Muskeln sind so schlaff, daß wir Kinn und Kopf nicht mehr halten können. Aber anhand der EEG-Mes- sungen zeigte sich, daß im Gehirn gleichzeitig ein wahrer Sturm an Aktivität losbricht. Herzschlag und

Blutdruck werden unregelmäßig, der Sauerstoffverbrauch steigt sprunghaft an, die Hormonausschüttung erreicht einen Höchststand. Und auch die Gehirntemperatur erhöht sich leicht aber merklich.

Kleitmans Mitarbeiter William Dement startete einen Versuch, in dem er Testschläfer genau dann weckte, wenn EEG und Augen eine Traumphase anzeigten. Erst danach ließ Dement sie weiterschlafen, so daß die Ärmsten zwar eine ausreichende Schlafmenge, aber keine Träume bekamen.

STÖRUNGEN TRETEN AUF

Der Organismus wehrte sich dagegen. Mit jeder zusätzlichen Versuchsnacht steigerte sich die Zahl der REM-Phasen, bei der fünften gestörten Nacht registrierte Dement bis zu 30 (versuchte) REM-Phasen. Tagsüber waren die Testpersonen gezeichnet von ihren traumlosen

Nächten. In unterschiedlicher Stärke traten Störungen auf: Je nach Persönlichkeitsprägung wurden die verhinderten Träumer nervös und ängstlich, gereizt oder aggressiv. Sie konnten ihre Muskelbewegungen nicht mehr gut kontrollieren. Gedächtnisstörungen und Konzentrationsschwächen häuften sich. Ihr Zeitsinn ließ nach. Einzelne zeigten sogar Symptome wie Verfolgungswahn oder Halluzinationen.

Wenn wir gesund sein wollen, müssen wir also träumen, auch wenn der innere Film, der in uns abläuft, nicht immer angenehm ist. Auch das zeigt das Experiment vom Traumentzug deutlich: Wenn William Dement seine Versuchsschläfer wieder ungestört ließ, dann träumten sie fast doppelt so lange wie unter normalen Umständen — das Versäumte muß offensichtlich nachgeholt werden. Wir müssen also nicht nur atmen, essen und trinken, sondern auch unbedingt träumen.

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