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OhnmacIit des Todes

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Das ist, so erzählte der Offizier, nun schon wieder ein paar Jahre her, und ich war damals noch in Schanghai. Als die Japaner kamen und die europäischen und amerikanischen Zeitungen voll waren von ihren Gemetzeln, luden sie die ehrenwerten abendländischen Mächte ein, ihnen ihre ehrenwerten Militärattaches zu schicken, damit die sich augenscheinlich davon überzeugen könnten, daß bei den ehrenwerten Kriegshandlungen alles mit rechten Dingen zugehe. So kam es, daß ich die ersten Wochen der Kampagne auf japanischer Seite mitmachte, und noch dazu in bevorzugter Situation: der japanische Brigadier erinnerte sich, mir ein paar Jahre zuvor in einem privaten Kreis begegnet zu sein, und ich erfreute mich seines Wohlwollens.

Um Schanghai wurde damals noch gekämpft, aber der Kampf war beinahe vorüber. Das japanische Kriegsschiff, auf dem ich war, hatte vom Flusse aus die letzte noch von den Chinesen gehaltene Vorstadt mit Granaten belegt, die Soldaten der Republik hatten sich zurückgezogen, aber nachts kamen sie wieder, überrumpelten die japanischen Wachen, stürmten die japanische Schule und die von den Japanern besetzte amerikanische Missionsbibliothek — nun, und dann brannte es.

Wir auf dem Schiff hören Lärm, sehen Flammen; dann werden ein paar Detache-ments schwerbewaffneter Marine-Infanterie gelandet; zwei Stunden später sind die Chinesen zurückgeschlagen, gegen vierhundert Tote liegen in den Gossen der Straßen, und zweihundertvierzig Gefangene, streng gefesselt, bleiben den Japanern in der Hand. Um acht Uhr morgens tritt das japanische Kriegsgericht zusammen. Eine Viertelstunde vor neun Uhr knatterten die ersten Schüsse der Pelotons durch die Morgenluft.

Ich kann nicht sagen, was mich ver-anlaßte, zu dieser Füsilierung zu gehen. Ich finde einen freien Platz, in den hinter Stacheldraht und Spanischen Reitern aus einer Entfernung von drei- oder vierhundert Metern das Gedränge der Eingeborenenhäuser hereinschaut. An der Hinterfront zweier Lagerschuppen, deren lange, fensterlose, weißgetünchte Mauern als Kugelfang dienten, war die Exekution in vollem Gang. Von den zweihundertvierzig lagen gegen vierzig auf dem Lehm. Daneben standen noch etwa zweihundert Chinesen in einer langen Reihe. Und ihnen . gegenüber das Exekutionskommando mit einem Offizier. Es war einer jener irrsinnig schwülen Vormittage im August; die offenbar eben erst ausgehobene Mannschaft des Pelotons, Knaben, denen die Verstörung über die ihnen gewordene blutige Aufgabe von den Augen zu lesen war, begann schlecht zu schießen. Auch den Offizier, einen dicken Mann, überwältigten Hitze und daä blutige Handwerk, seine schweren, fleischigen Wangen bedeckten sich mit einem kranken Graugelb. Eben als ich auf dem Schauplatz erschien, hob er die flache Hand und ließ eine kleine Pause eintreten.

Sie gab mir Gelegenheit, die Leute, die da standen und auf ihre Kugel warteten, schärfer ins Auge zu fassen. Sie waren keine Soldaten. Sie waren sehr verschiedener Art. Ich sah grauhaarige Männer, und ich sah Knaben, kaum der Schule entwachsen; ich sah Arbeiter in verschlissenen Kleidern und Herren in Bürgertracht. Und was mir auffiel: im Gegensatz zu ihren Richtern oder Nachrichtern trugen sie alle in ihrer halben Fesselung ein würdig freundliches, ja zum Teil fast ein freudiges Gehaben zur Schau — als stünden sie da rein zufällig und in Erwartung eines Schauspiels, das sie im Grunde nichts anging. Zwischen einem älteren und ein wenig überstattlichen Mann und einem zwar jüngeren, dem dafür die Kette der geringen Würdenträger um den Hals hing, hatte sich ein höflicher Widerstreit erhoben, mit Blicken, Lächeln, kleinen Gebärden, wobei es offenbar darum ging, wer dem andern, wie an der Tür eines Salons, den Vortritt lassen sollte in die jenseitige Welt. Da erhob der dicke Offizier endlich wieder die Hand, zwölf Schüsse krachten, und die beiden verbindlichen Herren drückten ihre lächelnden Gesichter in den gelbroten Lehm. Mir wurde ein wenig übel, und da ich das nicht merken lassen wollte, schritt ich mit einiger Hast diese ruhige Front zweihundert gleichmütig gleichgeformte Gesichter ab — und merkte erst auf, als ich des Flügelmanns, des zweihundertsten der Zweihundert, ansichtig wurde.

Das war ein sehr magerer, grobknochiger, hochgewachsener Mensch — er überragte mich um Haupteslänge. Und dieser Mensch, der da auf den Tod wartete, dieser Kandidat, dieser halb schon Jenseitige, stand da und las in einem Buch. Ich trat zu ihm und nahm ihm das Buch aus der Hand. Es waren Buddhas Reden, in einer englischen Ausgabe. „Sie sprechen Englisch?“ fragte ich ihn. Er nickte bejahend, nahm das Buch an sich, suchte, höflich, doch ein wenig unwillig über die Störung, fand die verblätterte Stelle und las weiter. „Woher haben Sie das Buch?“ fragte ich. „Aus der Bibliothek der Mission“, sagte er ruhig und las weiter. „Sie sind Buddhist?“ fragte ich. „Nein“, sagte er, „ich kenne dieses Buch nicht, ich habe dieses Buch nicht gekannt.“ Er las, doch ich ließ nicht ab. Ich sagte: „Es sind keine zwanzig Mann mehr neben Ihnen. Sie lesen — und haben keine vier Minuten zu leben!“ Da schaute er zum ersten Male auf. Er suchte die Worte — oh, er sprach ein lächerliches Englisch, immer L statt R, er sprach lächerlich — und eben als nebenan eine neue Salve krachte und vier Mann hintüber fielen, wog er das Buch in der Hand und sagte langsam: „Das da wiegt schwerer.“ Ich weiß nicht, warum mich seine Antwort erbitterte. Vielleicht war es auch nur die lähmende Schwüle der_ grellen Luft. Ich schrie: „Mann, Sie sterben!“ Noch einmal blickte er von dem Buche auf, blickte um sich, hob langsam einen langen, dürren Arm nach dem dicken Offizier, der schon zwanzig, fünfzehn Schritte nah die Exekution kommandierte, und sagte: „Dieser hohe Herr wird vor mir sterben.“ Dann schaute er suchend um sich, und plötzlich wies sein dürrer Finger nach meiner Brust, und er sagte: „Und auch dieser hohe Herr wird vor mir sterben.“ Er vertiefte sich in sein Buch und tat den Mund nicht mehr auf.

„Ich bin kein junger Mann. In meinen Jahren lügt man nicht. Sie dürfen mir glauben.“ Als der Chinese das sagte, standen — mit ihm zusammen, ich habe sie gezählt — noch zwölf Mann. Als noch acht Mann standen, ließ jener dicke Offizier sich auf das rechte Knie nieder, dann auf das linke Knie, und dann legte er sich ganz leicht hin. Man rief den Arzt. Es war ein Gehirnschlag. Ein Unteroffizier übernahm das Kommando. Aber eben als die nächste Salve krachte und nur mehr vier Mann aufrecht standen — drei Mann und der mit dem Buch, der nicht einmal aufgeblickt hatte, als der dicke Mann starb —, da also kamen ein paar Offiziere auf den Platz, und ihnen voran der. Brigadier, der sofort auf mich zutrat. „Sie sind blaß“, sagte er. „Sind Sie krank? Kann ich etwas für Sie tun?“ Ich deutete auf den noch immer Lesenden und sagte mühsam: „Schenken Sie mir diesen Mann.“ Er lachte und sagte: „Aber gewiß, warum nicht!“

Ich dankte, löste dem Mann die Fußfessel, nahm ihm das Buch aus der Hand, schob es ihm in die Tasche, und eben, da die drei letzten fielen, führte ich ihn an den Draht, legte über den Graben ein Brett und sagte: „Gehen Sie. Sie sind frei.“ Er nickte einen knappen und ernsten Gruß, ganz ohne Verwunderung, und obgleich der Kampf in jenem Häusergewirr neu aufgeflackert war und Kugeln um ihn pfiffen, ging er ganz langsam über den freien Platz nach dem chinesischen Quartier. Er mochte von dessen schützenden Mauern noch gegen hundert Schritte entfernt sein, da war es, als besänne er sich. Er blieb stehen, zog das Buch mit den Reden Buddhas aus der Tasche, fand die Stelle, da ich ihn unterbrochen hatte, und von Kugeln umschwirrt, das Gesicht auf das Buch geneigt, ging er langsam weiter, bis er dort drüben irgendwo in einer Gasse verschwand. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.

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