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Oper und Musical

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Direktionskrisen der Operntheater, Entwicklungskrise des Genres, Erfolge des Musicals, nachdem die Operette trotz künstlicher Atmung nicht mehr recht lebendig zu werden scheint — alj.es das sind zweifellos Wirkungen und nicht Ursachen. Diese aber scheinen weit über dem Persönlichen, Reparablen und Konventionellen zu liegen.

Gäbe es eine Oper der Gegenwart, die das breitere Publikum unmittelbar anspricht, wie es zuletzt die Opern von Puccini und Richard Strauss vermochten, dann gäbe es keine aufbrechenden Opernkrisen. Denn Opern von unmittelbarer Wirkung bedeuten volle Häuser, billigere Preise, höhere Honorare und Tantiemen und außerdem Konzentration künstlerischer Entwicklung sowohl der Sänger und Musiker als auch der Dirigenten. Verträge, Engagements und Gastspiele würden von selbst ihr normales Maß erreichen, der musikalische Import wäre durch den Export überdeckt, es liefen nicht nur die Ausübenden, sondern auch die Opern ins Ausland und brächten jenes Gold, das die Ausübenden kostem Wir lebten davon, daß wir die andern leben ließen, während wir heute erwiesenermaßen davon nicht leben können.

Nun haben wir zwar eine ganze Anzahl neuer Opern, aber d i e neue Oper haben wir nicht. Wir leben von der Pflege der alten, das ist sehr löblich, doch als Nonplusultra zuwenig. Niemand in der Welt macht Mozart und Beethoven schöner als wir, aber es ist längst von einem künstlerischen zu einem kulturellen Ereignis geworden, das sich im Namen des Dirigenten stärker manifestiert als in dem des Komponisten, kulturell und finanziell. Aber von der ersten Kompositionsskizze bis zum gesicherten Welterfolg (zu dem es gar nicht kommt) erwachsen dem Komponisten nur Ausgaben, dem Dirigenten nur Spitzenhonorare. Ein generös dotierter Kompositionsauftrag dürfte kaum die Hälfte eines Monatsbezuges des Dirigenten erreichen. Es ist gleichsam der musikalische Zwischenhandel, der verdient.

Soweit die eine Seite; schwerer wiegt noch die andere, das Genre selbst. Die Frage, ob die Oper eine Angelegenheit des Volkes ist wie das Geld, das sie kostet, ist heute schwer zu beantworten. Eine Opernvorstellung ist ein festliches Ereignis, an dem die Leute aus ganz verschiedenen Gründen teilnehmen, auch aus musikalischen. Sie absolvieren sie als die vielleicht angenehmste Pflicht kultureller Repräsentation vor sich selbst und anderen. Die Urteile stehen im Prinzip ja fest, man braucht nicht über Gut und Schlecht, sondern nur über Besser oder Schlechter diskutieren und ist dankbar, wenn man in kein modernes Werk gerät, das zu grundsätzlichen Entscheidungen zwingt, zu denen vielfach die Voraussetzungen fehlen, woran der Durchschnittshörer, auf den es am Ende doch ankommt, völlig unschuldig ist. Indes, er fühlt sich ausgeschaltet, nicht mit Unrecht, er repräsentiert etwas, das er kaum liebt, und weiß nicht einmal genau, ob es ernst gemeint ist oder man sich mit ihm einen Jux machen will.

Der selbst wieder musiktheaterhaft geformte Ausdruck dieser Opposition (freilich nicht nur gegen die Oper) war die Operette. Sie hat die Oper wohl nie an Langlebigkeit aber an Aufführungsziffern und En-suiW-ErfoIgen entscheidend geschlagen. Jn ihrer letzten Phase ist sie der Versteifung der Formen textlich, gesellschaftlich und musikalisch erlegen. Sie repräsentiert unsere Zeit, unsere Menschen ebensowenig wie die Oper, ja sogar noch weniger, ist immer mehr ein Bilderbogen der Vergangenheit, da es uns angeblich so herrlich ging. Die Typen und Figurinen haben keine Seele mehr und für ein paar alberne Witze ist der Abend zu teuer.

Jedoch eines hat die Operette der Oper voraus: die Raschheit der Umstellung, die Beweglichkeit, die Fähigkeit, ihr Kleid zu wechseln, sich der Mode anzupassen und die Erstarrung zu parodieren. Sie hat die tollsten Versuche gemacht (Singspiel, Revue usw.), den Markt zu behalten oder neu zu erobern. Ihr Unglück war, daß ihr der Dichter fehlte, daß sie daher Puppen anzog statt Menschen. Und es kam wie in der Oper immer weniger auf das Stück an als auf die Darsteller. Stars anstatt Menschen. Und der Funke erlosch. Sie wurde in ihrer Art genau so repräsentativ wie die Oper, und man ging hin, weil es zum guten Ton gehörte, dabeigewesen zu sein. Sie war vielleicht noch ein witziges, aber kein fröhliches Theater mehr.

Gehen Sie aber in „Kiss me, Kate“ und Sie werden erstaunt sein, wieviel „gutes“ Publikum aus der großen Oper Sie dort wiederfinden. Es unterhält sich genau so gut, wie Sie sich unterhalten werden. Und was ist es, das alle mitreißt? Die Musik? Ach, kaum. Sie ist zwar glänzend und gekonnt instrumentiert, pflückt aber ihre Einfälle nicht vom Wipfel des Musikbaumes, sondern bequem von dessen unteren Aesten, verschmäht sogar Fallobst nicht. Das ist nichts für den blasierten Opernkenner, bestenfalls einiges für den Tänzer. Der Text? Vielleicht, denn ein einfallsloses Textbuch versagt im Musical wie in der Oper. Am stärksten aber packt zweifellos die Unmittelbarkeit der Wirkung, der sprühende Funke der Unbekümmertheit, die liebenswürdige Gelöstheit der Form und der Formen. Das redet, singt und ballettet scheinbar ganz zufällig, wie es gerade kommt. Und wenn hier ein geheimer Plan vorliegt, ist er das Genialste am Stück. Ferner der sichere Griff ins Heute.

Keine antike Legende im Text, kein Panzer der Durchkomponiertheit, kein problematisches Fragezeichen in der Partitur. Die Bühne auf der Bühne ist kein Zufall. Nicht die Dargestellten, sondern die Darsteller sind menschlicher Mittelpunkt des Stücks. Wer die Welt darstellen will, muß bei sich selbst beginnen. Das geschieht hier. Der alte unverbesserliche Adam guckt aus jeder Falte der Kostüme, Petruccio und Kätchen werden zum Symbol ihrer Schauspieler und nicht umgekehrt. „Schlag nach bei Shakespeare, dort steht es genau“ ist der parodistische Hinweis der Handlungsparallele. Und man freut sich und lacht, auch wenn Shakespeare uns buchstäblich den Rücken zeigt. Und noch eins: der Name des Komponisten ist plötzlich wieder wichtiger als der des Dirigenten. Man fragt nicht, wer hat es dirigiert, sondern wer hat es gemacht?

Verdrängt das Musical die Oper? Natürlich nicht, höchstens im Sinne der Beggars Opera vom Jahre 1724. Aber es gibt ihr Aufgaben, hält ihr einen Spiegel vor: den Menschen, der vor allen seinen Problemen steht, der wichtiger ist als alle seine Probleme, einschließlich der musikalischen. Den Menschen, der sich viel zu ernst nimmt, um sich pathetisch und heldisch zu gebärden, der seine Vorzüge und Schwächen hat und sie auch an seinen Mitmenschen findet und erträgt. Schlag nach bei Shakespeare — nicht bei Kafka. Lach ein wenig über die verfahrene Welt und dich selbst mitten drin. Ein fröhliches Herz besiegt die Angst, denn es allein hat die Kraft zu erleben und zu gestalten.

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